Premiere für "Everywoman": Sterben macht einsam
Einen neuen "Jedermann" sollte Regisseur Milo Rau zeigen. Was letztlich auf die Bühne kam, ist komplett anders – eine existenzielle Herausforderung.
Tag 19 der Salzburger Festspiele. Die Sonne scheint. Frauen in großer Abendgarderobe gehen in Richtung Festspielhaus. Vor der "Szene", dem umgebauten Salzburger Stadtkino, wartet eine größere Menschenmenge. Premiere, die letzte in diesem Corona-Festspielsommer. Und das ist eine gute Nachricht, denn auch diese Premiere findet statt. 19 Tage lang ging das Festspiel-Experiment in Corona-Zeiten bislang gut. Der Plan scheint aufzugehen, bislang.
Auf der Bühne herrscht Minimalismus pur. Zwei Felsen, ein Flügel, mehr nicht. Dazu die Schauspielerin Ursina Lardi, die keine Rolle spielt, sondern erzählt, von sich. Von der Galopprennbahn, die sie früher einmal besucht hat, von diesem Pferd, das erst so unfassbar schnell war, dann gestürzt ist auf ihrer Höhe, versucht hat, wieder aufzustehen, sie angesehen hat, mit einem Blick voller Schrecken, voller Erstaunen, voller Angst und Unverständnis. Das Tier, das ahnt, dass gerade eine Katastrophe passiert ist, das Tier, das nicht weiß, dass es gleich sterben wird.
Schon ist dieser letzte Premierenabend bei seinem Thema. Der Tod, das Sterben. Das Tier weiß im Leben nichts von seinem Tod. Für den Menschen steht er von Anfang an als unausweichliche Gewissheit fest; der Mensch hat aber diese Meisterschaft darin entwickelt, sich diese Gewissheit die meiste Zeit des Lebens nicht einzugestehen.
"Everywoman" bei den Salzburger Festspielen: Eine Frau erzählt vom Krebs
Einen neuen "Jedermann" sollte der Theatermacher und Regisseur Milo Rau inszenieren. Gemeinsam mit der Schauspielerin Ursina Lardi hat er "Everywoman" entwickelt. Und er bricht mit Hoffmansthals Allegorienspiel. Es gibt hier keine Rollen, sondern nur existenzielle Not, die von keiner christlichen Verheißung auf Erlösung und auf ein Leben nach dem Tod gelindert wird. Statt eines erfundenen reichen Kaufmanns steht eine reale Frau im Mittelpunkt, die selbst über Videoeinblendungen mitspielt und sich einer Diagnose stellen muss, die ihr nur noch Monate zu leben gibt: Bauchspeicheldrüsenkrebs, nicht mehr zu operieren.
Diese Frau hat einen Namen: Helga Bedau. Über einen Brief hatte sie den ersten Kontakt mit Lardi aufgenommen. Sie wollte noch einmal Theater spielen. Entstanden ist daraus dieser Abend, in dem erzählt wird, dass Bedau aus Lünnen im Ruhrgebiet stammt, dass sie als 20-Jährige 1968 nach Berlin gezogen ist, wo sie auch heute noch lebt. Wenn beschrieben wird, wie Bedau anfangs in Berlin mitdemonstrierte oder wie sie Jahre später im Standesamt saß, mit zwei Männern und einem Kind, um die komplizierte Vaterschaft richtig anerkennen zu lassen (es war nicht ihr Ehemann), soll das nicht als etwas Besonderes herausgestellt werden, sondern als das Leben, wie es jeder auf seine Weise lebt.
Aber für Helga Bedau ist jetzt alles anders. Sie weiß, dass ihr Leben bald endet. Sie ahnt, dass diese Erinnerungen an ihr Leben mit ihr sterben werden, dass dieses ganze Leben bald nicht mehr sein wird. Sie hat die Diagnose bekommen. Ohne Pathos erzählt sie – immer nur auf der aufgezeichneten Videoprojektion zu sehen – dass sie lieber leben würde, dass sie nicht sterben will.
Die Einsamkeit des Sterbenden, die Radikalität, mit der der Tod das ganze gelebte Leben in Frage stellt, fängt dieser Abend ein. "Warum gibt es denn nichts Neues über den Tod zu sagen?", heißt es da. Was bedeutet Sterben, wenn es keine Verheißung auf ein Danach gibt, wenn er das Ende markiert? Im gesellschaftlichen Leben findet der Tod ja nicht mehr statt, er ist eine private, eine individuelle Katastrophe geworden, die so lange wie möglich ausgeblendet wird, selbst wenn es eine Diagnose gibt. "Über den Tod denke ich nicht nach", sagt Bedau. Das verdränge sie, sagt sie schonungslos ehrlich. Der Tod wird als Katastrophe bezeichnet, aber auch als Skandal, weil jeder Mensch in diesem Leben so eigen, so individuell ist, so sehr, dass er unsterblich sein müsste.
Gespielt wird in dieser Szene nichts
Auf der schlicht gestalteten Bühne wird das raffiniert gezeigt. Dass Bedau nur per Videoeinspielung zu Wort kommt, mag auch der praktischen Überlegung gefolgt sein, dass anfangs niemand sagen konnte, ob sie die Premiere noch erleben wird. In der Inszenierung wird dadurch aber auch noch einmal die Distanz erhöht. Schauspielerin und Publikum sind im Hier und Jetzt, der Welt, die den Tod von sich wegschiebt, um das einfache Leben zu leben, das Leben, das nicht in jedem Augenblick von sich verlangt, in allen Taten der Unausweichlichkeit des Todes standzuhalten. Für Bedau gilt das nicht mehr.
Erst wird mit ihr auf der Leinwand die Gartenszene des "Jedermann" nachgestellt, sie soll darin "Jederfrau" spielen. Aber nachgespielt wird dann nichts. Sie hat keinen Hunger, sie kann gerade nichts essen. Die Kamera zoomt an Bedaus Gesicht heran. Danach ist sie an dieser Tafel allein, schließlich verschwindet die Tafel. Sterben macht vollkommen einsam.
Ursina Lardi fragt auf der Bühne, ob das immer so sein muss, ob es nicht Begegnungen gibt, die der alles nivellierenden Kraft des Todes standhalten. Mag sie deshalb auch die Momente auf der Bühne, bevor der Schauspieler den ersten Satz spricht oder nachdem das letzte Wort gesprochen ist? Diesen Moment, in dem nicht klar ist, was da alles kommen wird. Und dieser Moment, in dem das Publikum noch vereint im Schweigen ganz beim Zuvorgesehenen ist.
Im Sommer möchte Helga Bedau sterben, bei offenem Fenster, ein Donner draußen, dann Regen. Bach möchte sie hören. Darauf bringt Ursina Lardi die Bühnenmaschinerie in Gang. Es ist ja Sommer, Bühnenregen fällt, sie spielt Bach auf dem Flügel. Die Schlussworte gebühren dann Bedau. Sie erzählt von früher, von Berlin, von den Kneipen dort. Sie sagt, dass es schön war, dieses Leben. Stille. Dann Applaus. Und noch viel mehr und Getrampel beim zweiten Mal. Neben Ursina Lardi steht dort Helga Bedau. Sie hat die Premiere erlebt.
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