Herr Knaus, in Ihrem neuen Buch entwickeln Sie ein Konzept zum künftigen Umgang mit Flucht und Migration. Sie schreiben: „An den Grenzen zeigen wir, wer wir sind und wer wir sein wollen“ – was meinen Sie damit?
Gerald Knaus: Es greift zu kurz, wenn wir nur über Maßnahmen und Instrumente diskutieren. Viel grundsätzlicher steht heute an unseren Grenzen die Idee der unantastbaren individuellen Menschenwürde all jener infrage, die Europa als Flüchtlinge oder irreguläre Migranten erreichen. Auf diesem Konzept baut die 1951 beschlossene Flüchtlingskonvention auf, die von rund 140 Staaten unterzeichnet haben. Sie besagt, dass niemand, der begründete Furcht vor Verfolgung hat, ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit in eine mögliche Gefahr zurückgestoßen wird. Dazu verlangt der Respekt der Würde, dass Menschen kein Mittel zum Zweck sein dürfen. Wenn heute an den Europäischen Außengrenzen Ankommende so behandelt werden, dass ihre Behandlung andere davon abschrecken sollen, sich auf den Weg in die EU zu machen, dann ist diese Würde in Gefahr.
Zu sehen etwa kürzlich auf Lesbos?
Knaus: Was sich durch den Brand offenbarte, war leider weniger das Versagen einer europäischen Politik der Abschreckung als der von manchen Regierungen erwünschte zynische Erfolg: Es entstanden Bilder, die Menschen davon abhalten sollen zu kommen. Tatsächlich gab es über keine humanitäre Katastrophe in den letzten Monaten so viele Artikel und Berichte in europäischen Medien wie über die Lage auf Lesbos. Doch diese Aufmerksamkeit führte zu keiner Verbesserung der Situation. Es fehlte auch nie an Geld. Die EU hat Griechenland seit 2014 fast drei Milliarden Euro zugesagt. Es fehlte der politische Wille, einerseits die Situation zu verbessern und zum zweiten, in all den Jahren seit 2016 schneller zu entscheiden, wer von den Inseln auf das Festland und wer in die Türkei zurückgeschickt werden soll. Seit März 2020 ist letzteres gar nicht mehr möglich, und dennoch wurden Zehntausende, darunter allein 6000 Kinder unter zwölf Jahren, weiter auf den Inseln festgehalten. Das wirft die grundsätzliche Frage auf: will die EU ihre eigenen Gesetze und Werte an ihrer Grenze noch verteidigen? Und kann sie das, ohne die Kontrolle zu verlieren? Davon, welche Antwort Regierungen auf diese Fragen geben werden, hängt ab ob die Flüchtlingskonvention zu ihrem 70. Geburtstag im nächsten Jahr nur noch von historischem Interesse ist, oder noch ernst genommen wird.
Aber auch hierzulande finden Untergangsmahner seit 2015 ja fruchtbaren Boden. Der neue Sarrazin ist selbstverständlich wieder ein Bestseller …
Knaus: Politiker müssen Ängsten vor einer vermeintlichen Masseneinwanderung und Kontrollverlust glaubwürdig entgegentreten. Das geht, denn diese Angstbilder sind reine Fiktion. 2015 war eine absolute Ausnahmesituation, das Ergebnis einer Flüchtlingskatastrophe, der syrischen, noch dazu unmittelbar vor der Haustür Europas. Blicken wir jedoch auf die irreguläre Migration aus Afrika nach Europa dann sprechen die Zahlen in den letzten Jahrzehnten eine andere Sprache. Ungarns Premier Viktor Orban etwa hat vor zwei Jahren gewarnt, bis zum Jahr 2020 würden sich in Afrika 60 Millionen Menschen auf den Weg machen, die Mehrheit davon nach Europa, also mindestens 30 Millionen. Tatsächlich liegt er damit um 99,5 Prozent falsch. Insgesamt ist die Zahl der Menschen, die regulär und irregulär aus Afrika nach Europa kommen nicht höher als vor 25 Jahren. Wir bräuchten mehr reguläre Mobilität, anstatt uns vor einer imaginären Massenmigration aufgrund des Klimawandels oder des Bevölkerungswachstums in Afrika zu fürchten, die nicht kommen wird. Auch der Begriff des Migrationsdrucks beruht auf einem Irrtum.
Ein Irrtum?
Knaus: Im letzten Jahr sind 99 Prozent der Flüchtlinge in Afrika in Afrika geblieben. Migration ist auch keine unaufhaltsame Macht. Tatsächlich lässt sich Migration fast immer stoppen, und wird weltweit gestoppt, leider meist mit Gewalt. Es ist ein Teufelskreis, denn die Gefahr, dass Politiker, die trotz aktuell niedriger Zahlen mit apokalyptischen Szenarien von Überflutung und Eroberung Angst verbreiten, um dann die Zustimmung einer Mehrheit zu Gewalt und Abschreckung zu finden, ist groß. Selbst wenn dann die Zahlen sinken, ist die Frage an europäische Demokraten: Wollen wir das? Oder gibt es eine alternative Politik, um Leiden zu vermeiden die trotzdem mehrheitsfähig ist?
Was müssen da die Lehren aus der Ausnahmesituation 2015 sein?
Knaus: Wir brauchen eine Agenda für die nächsten zehn Jahre: Wir müssten weltweit die Menschen besser identifizieren, die in Not sind und in großer Zahl in Ländern ankommen, die sie nicht versorgen können. Und diese Länder von Uganda über Jordanien bis nach Bangladesch ähnlich direkt unterstützen, wie es die EU – wenn auch zu spät – in den vergangenen Jahren in der Türkei gemacht hat. So beseitigen wir die Fluchtursachen, die auch in unserer Hand liegen, die der Weiterflucht. Indem wir Bedingungen menschenwürdig gestalten, in denen Schutzbedürftige leben, die bereits ein Erstaufnahmeland erreicht haben. Die zweite Lehre: Wenn Länder Menschen aufnehmen, dann sollte es durch Neuansiedlungen organisiert werden, durch Koalitionen freiwillige helfender Länder.
Was droht bei einem Scheitern?
Knaus: Tatsächlich sind die Länder, die aufgrund der Flüchtlingskonvention Schutz gewähren heute fast alles europäische, plus Kanada – die Vereinigten Staaten haben sich unter Trump praktisch komplett aus der Hilfe zurückgezogen. Das kleine Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern etwa hat in den letzten Jahren viermal mehr Menschen aufgenommen als etwa China, Indien, Japan, Südkorea und Indonesien zusammen. Das heißt: Wir leben in einer Welt, in der die Idee der Flüchtlingskonvention weltweit in Gefahr gerät, wenn Europa sich abwendet.
Was tun?
Knaus: Um das zu verhindern, muss die Europäische Union diese Werte auf ihrem eigenen Territorium ernst nehmen. Tut sie das nicht hat die Flüchtlingskonvention keine Zukunft. Dann wäre das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR bald in der Situation, in der der Völkerbund einst war: seine Werte in der realen Politik nicht mehr verteidigen zu können. Auch die Sklaverei wurde schon vor hundert Jahren vom Völkerbund verurteilt - um dann im Dritten Reich und in Stalins Gulag an Dutzenden Millionen von Menschen wiederbelebt zu werden. Alle Werte sind vergänglich, wenn sie nicht verteidigt werden. Auch die Menschenwürde kann sterben.
Den Ängsten muss man, sagten Sie, zum einen mit Fakten entgegengetreten werden. Was wäre das andere?
Knaus: Eine Strategie, mit der die Länder, die diese Werte tragen, zusammenfinden und anderen zeigen, dass es gelingen kann, die Würde der Schutzbedürftigen zu wahren und die Kontrolle der Grenzen zu gewährleisten. Deutschland braucht dazu Partner. Die gesamte EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten wird das nicht sein. Aber gemeinsam mit den Mittelmeeranrainern, zudem auch mit Ländern wie Frankreich, sollte man sich darüber verständigen, wie es gelingt, die Zahl der irregulär Ankommenden zu reduzieren. Wie schaffen wir es also, etwa in Malta jemanden, der im zentralen Mittelmeer in Seenot geraten ist, aufzunehmen, aber dann auch innerhalb von Wochen zu entscheiden: Braucht diese Person Schutz oder nicht? Und die, die keinen Schutz brauchen, auch abzuschieben, um gefährliche Migration über das Mittelmeer für Nicht-Schutzbedürftige möglichst zu reduzieren? Darum werbe ich derzeit in Gesprächen mit Vertretern fast aller deutschen Parteien.
Aber das Problem ist ja ein globales.
Knaus: Darum muss es auch auf globaler Ebene darum gehen, solche Koalitionen zu finden. Etwa mit Kanada, das zuletzt mit 30 000 Flüchtlingen aus aller Welt global die meisten in einem geordneten Verfahren ins Land holt, davon allein zwei Drittel durch private Patenschaften kanadischer Bürger integriert. Kanada wäre ein guter Verbündeter für Deutschland, dem Land mit der größten Asylbehörde der Welt, das den meisten Menschen Schutz bietet. Wenn es gelänge, dass diese beiden Länder ein realistisches gemeinsames Konzept entwickeln, glaube ich, dass das beispielgebend sein könnte.
Was würde das kanadische Modell für Deutschland bedeuten?
Knaus: Umgerechnet auf die Einwohnerzahl hieße das, dass im Jahr 0,05 Prozent der Bevölkerung durch Patenschaften ins Land kämen. Und dass nicht mehr als 130 000 Menschen insgesamt einen Asylantrag stellen würden, wovon die Hälfte dies schon vor der Ankunft täten und sofort eine klare Perspektive hätten. Das würde Ordnung, Integration und die Kontrolle der Grenzen enorm erleichtern. Das könnte Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik im nächsten Jahr sein: der Flüchtlingskonvention zu ihrem 70. Geburtstag wieder Leben einzuhauchen – mit Kanada. Und vielleicht den USA unter einem Präsident Biden. Der hat in seiner Kandidatur angekündigt, dass er hier die Politik Trumps umdrehen will – und sein Stab hat sich interessiert an einer Kooperation mit Deutschland auch in diesem Bereich gezeigt.
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