Wenn Jugendlichen plötzlich alles zu viel wird
Bei vielen Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie spielt die soziale Stellung eine Rolle. Die Chefin am Augsburger Josefinum befürchtet, dass sich die Situation verschärft.
Es waren wohl die falschen Freunde, meint der Stiefvater von Max (Name geändert), die ihn auf diesen Weg gebracht haben. Der 16-Jährige aus Augsburg hat in diesem Jahr schon einiges hinter sich. Weil er geklaut hat, musste er Sozialstunden ableisten. Und weil er zu viel trinkt und auch Kräutermischungen raucht, sollte er an einem Projekt des Jugendhilfevereins „Die Brücke“ teilnehmen, das Jugendlichen zurück in einen normalen Alltag hilft.
Doch all das brachte nichts. Kaum waren die Therapiestunden vorbei, gönnte er sich auf dem Heimweg gleich den nächsten Joint, beschreibt sein Stiefvater. „Und einmal war alles zu viel“, erzählt der von einem Tag Ende Mai. Er und seine Frau steckten den zugedröhnten Jungen ins Auto und fuhren ins Josefinum, jenes Krankenhaus, das für die Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in ganz Schwaben zuständig ist.
Die Belegung in der Jugendpsychatrie des Josefinum beträgt 110 Prozent
Bleiben konnte Max dort aber nicht gleich. „Obwohl wir einen Einweisungsschein des Hausarztes hatten, mussten wir Max wieder mit nach Hause nehmen“, so der Stiefvater. Patienten mit einem Drogenproblem werden im Josefinum zunächst beraten und bekommen dann, so weit es ihr Zustand zulässt, zuerst einen Termin in der Drogenambulanz, sagt Prof. Michele Noterdaeme, Chefärztin der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dass die Eltern in solch einer schwierigen Situation ihr Kind zumeist wieder mit nach Hause nehmen müssen, sei für die oft schwer auszuhalten. „Das ist aber keine Abweisung.“
Vor Kurzem hat Dr. Noterdaeme im Jugendhilfeausschuss des Landkreises Augsburg dargestellt, wie sich die Arbeit ihres Hauses in den vergangenen Jahren verändert hat. 83 stationäre Betten gibt es in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und weitere 70 in der Tagesklinik. Früher wurden immer ein paar Betten für akute Fälle freigehalten, jetzt beträgt die Belegung 110 Prozent, in den vergangenen Jahren sind die Belegtage insgesamt von 21000 auf 23000 gestiegen. Waren es in dieser Abteilung des Josefinums im Jahr 2008 noch 7800 ambulante Fälle, so waren es im vergangenen Jahr schon 10500. „Ich weiß nicht, was da passiert ist“, so Michele Noterdaeme. Freilich hat sie ein paar Erklärungsansätze.
Im Josefinum werden auch traumatisierte Flüchtlingskinder behandelt
So werde heute bei psychischen Erkrankungen genauer hingeschaut als noch vor Jahren, die Sensibilität sei höher. Und dann gibt es noch eine ganz neue Gruppe von Patienten: Im Josefinum, das in Nördlingen und Kempten noch zwei Außenstellen hat, werden inzwischen auch traumatisierte Flüchtlingskinder behandelt.
Generell leiden 42 Prozent der Patienten, die aufgenommen werden, zwischen sechs und 18 Jahren unter einer Störung der emotionalen Befindlichkeit, gut 20 Prozent an expansiven Störungen, die sich in Aggressionen äußern können, viele haben auch Essstörungen oder leiden an einer autistischen Erkrankung. „Einer der größten Risikofaktoren für einen jungen Menschen sind psychisch kranke Eltern“, so die Chefärztin. Und sie sagt ganz deutlich: Eine psychische Erkrankung hängt auch von dem Platz in der Gesellschaft ab, den ein Mensch innehat. „Es gibt eine reale Zunahme der Patienten durch geänderte gesellschaftliche Strukturen. Mehr als die Hälfte unserer Patienten gehören mit ihren Familien der Unter- oder untersten Mittelschicht an. Fast 40 Prozent haben keine vollständige Familie.“ Weit über die Hälfte der Patienten, nämlich 60 Prozent, leiden unter mindestens zwei Störungen. Gerade Suchtpatienten, so wie Max, sind oft mehrfachbelastet. „Je älter der Patient wird, desto mehr Störungen kommen hinzu“, so Noterdaeme.
Fallzahlen im Bereich der Jugendhilfe seien stark gestiegen
Doch Prävention ist möglich. Oft sind Erzieher im Kindergarten die ersten, die eine Beziehungsstörung bei kleinen Kindern feststellen. Um schnell eingreifen zu können, bietet der Landkreis eine Reihe von Jugendhilfemaßnahmen an, so Jugendamtsleiterin Christine Hagen. Die setzen etwa in der Beratung und Begleitung von Alleinerziehenden an. Nach dem Krankenhausaufenthalt folgen Anschlussmaßnahmen, etwa eine Wohngruppe für Mädchen mit Essstörungen. „Das hat in der Vergangenheit meist gut geklappt, doch wir brauchen da auch Zeit für den Vorlauf“, so Christine Hagen. In Zukunft könnte das schwieriger werden, denn sämtliche Fallzahlen im Bereich der Jugendhilfe seien stark gestiegen.
Und auch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wird die Lage nicht einfacher, prophezeit die Chefärztin. Denn im nächsten Jahr soll das Krankenhausstrukturgesetzin Kraft treten, das, grob gesagt, den Kliniken weniger Kosten erstattet, je länger ein Patient bleibt. In der stationären Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind das immerhin durchschnittlich 60 Tage. „Der ganze Krankenhaussektor steht da stark unter Druck“, so Noterdaeme.
Max übrigens ist gerade noch mal um einen stationären Aufenthalt oder eine intensive ambulante Behandlung herumgekommen. Sein Stiefvater ist guter Dinge. Er habe neue Freunde und scheine sich wieder besser im Griff zu haben. Und einen Ausbildungsplatz ab September hat er auch. "Kommentar
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