Die Flucht in die Türkei: letzte Rettung vor dem Terror
Viele Menschen flüchten vor der Gewalt des „Islamischen Staates“ in die Türkei. Die Regierung will die Grenzen offenhalten. Präsident Erdogan steht in der Kritik der Medien.
Der Gefechtslärm ist auf der türkischen Seite der Grenze zu hören: Mit Panzern und Artillerie rückt die Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) im Norden Syriens weiter gegen Siedlungsgebiete der Kurden vor – und treibt eine immer größer werdende Flüchtlingswelle zigtausender Menschen vor sich her. Alleine seit der Grenzöffnung am vergangenen Freitag seien mehr als 130.000 Menschen in die Türkei geflüchtet. Zum Vergleich: Deutschland hat bislang die Aufnahme von 20.000 Syrern zugesagt und sieht sich immer größeren Problemen ausgesetzt, sie vor Ort unterzubringen.
Türkische Behörden haben den Ansturm kaum noch unter Kontrolle
Die Türkei hat dagegen allein in den vergangenen vier Tagen mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen, als ganz Europa in den drei Jahren des in Syrien tobenden Bürgerkriegs zusammen: Den 130.000 Flüchtlingen, die seit Freitag über die Grenze kamen, stehen laut UN-Angaben 124.000 syrische Flüchtlinge in den EU-Staaten gegenüber. Insgesamt sollen sich rund 1,5 Millionen Syrer in der Türkei aufhalten. In einigen Städten stellen sie inzwischen ein Drittel der Bevölkerung.
An der Grenze bemühen sich die türkischen Behörden, dem Ansturm Herr zu werden. Die Schließung der Grenze sei nur vorübergehend, hieß es: Grundsätzlich bleibe die Regierung bei ihrer „Politik der offenen Tür“, wonach jeder Flüchtling aus Syrien aufgenommen werde, sagte Vizepremier Numan Kurtulmus.
Die IS-Milizen kommen der türkischen Grenze gefährlich nah
Offenbar sind bereits weiter Zigtausende auf dem Weg. So stehen die IS-Verbände in einigen Teilen des Kampfgebietes nur noch einige hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt. Die Extremisten wollen die von Kurden lange als Zufluchtsort genutzte Grenzstadt Ain al-Arab und weitere Gebiete an der Grenze einnehmen und damit die eigene Machtposition zementieren. Teilweise gehen Geschosse des IS auf türkischem Territorium nieder; die 150 Kilometer von der Grenze entfernt stationierten deutschen Soldaten mit ihren Patriot-Raketen sind nicht in Gefahr.
Die große Zahl der Flüchtlinge ist nicht das einzige Problem für die türkische Regierung, die sich neuen Vorwürfen ausgesetzt sieht, sie kooperiere heimlich mit dem IS-Terrorsystem. Die Regierung weist dies zwar scharf zurück, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan und regierungsnahe Medien fachten den Verdacht einer Zusammenarbeit selbst neu an.
Der türkische Präsident Erdogan verhandelt mit dem Islamischen Staat
Ohne Einzelheiten zu nennen, deutete Erdogan an, ein Tauschhandel mit dem IS habe zur Freilassung der fast 50 türkischen IS-Geiseln am Wochenende geführt. Die Erdogan-treue Zeitung Yeni Safak meldete, dieser Handel habe einige für den IS wichtige Personen umfasst. Demnach könnte sich Ankara bereit erklärt haben, ausländische IS-Kämpfer aus türkischen Gefängnissen nach Syrien zurückzuschicken, um die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Darunter könnten sich auch ein Schweizer und ein Deutscher befinden: Sie waren im Frühjahr festgenommen worden, nachdem sie auf dem Rückweg vom IS-Kampfeinsatz in Syrien an einer Straßensperre drei Türken erschossen hatten.
Oppositionspolitiker werfen der Regierung zudem vor, den IS zu unterstützen, indem sie verwundete Dschihadisten gratis in staatlichen türkischen Krankenhäusern behandeln lasse. Die Zeitung Hürriyet berichtete, ein schwer verletzter IS-Kämpfer werde unter Polizeibewachung in einem Krankenhaus der Großstadt Sanliurfa behandelt.
Erdogan will am Rande der morgen beginnenden UN-Vollversammlung in New York mit US-Präsident Obama über das Thema Syrien sprechen. Der türkische Staatschef werde es dabei schwer haben, die Haltung Ankaras zu erläutern, kommentierte die Zeitung Milliyet. Die Türkei sehe den syrischen Präsidenten Assad als Hauptproblem, doch beim Westen sei das anders. „Die Welt sorgt sich nicht mehr um Assad, sondern um den IS.“
Die Diskussion ist geschlossen.