Ein Signal des Zorns
Die Union erlebt unruhige Zeiten. Ausgerechnet Merkels Vertrauter muss den Posten des Fraktionschefs abgeben. Damit verliert die Kanzlerin weiter an Beinfreiheit
Berlin Es ist exakt 16.44 Uhr, als lauter Beifall aus dem Sitzungssaal der Unionsfraktion in der dritten Ebene des Reichstagsgebäudes direkt unterhalb der Kuppel nach draußen dringt. Aber wem gilt der Applaus? Amtsinhaber Volker Kauder, der bereits seit 13 Jahren an der Spitze der Unionsfraktion steht und dieses wichtige Amt noch drei weitere Jahre behalten will? Oder doch seinem fast 20 Jahre jüngeren bisherigen Stellvertreter Ralph Brinkhaus, der sich selbst zum Herausforderer ausgerufen hat?
Wenige Sekunden später macht das mit Spannung erwartete Ergebnis die Runde unter den vor dem Sitzungssaal wartenden Journalisten. Es ist eine faustdicke Überraschung und gleichzeitig eine schwere Niederlage für das gesamte Partei-Establishment von CDU und CSU. Eine Niederlage für Bundeskanzlerin Angela Merkel wie CSU-Chef Horst Seehofer, die sich bis zuletzt hinter den Kulissen wie vor der Fraktion für den Amtsinhaber stark gemacht haben und nun erleben müssen, wie wenig Wert ihr Wort noch hat: Volker Kauder hat verloren, wurde in geheimer Wahl abgewählt. Knapp, aber dennoch klar unterliegt der Tuttlinger dem Gütersloher. 125 Stimmen fallen auf Brinkhaus, nur 112 auf Kauder, zwei Abgeordnete enthalten sich der Stimme. Zwei Regierungskrisen in den ersten Monaten der vierten Amtszeit der Kanzlerin – das war für viele Unionsleute im Bundestag offenbar zu viel. Der Ärger muss raus – und wenn es nach dem Sprichwort geht: Ich schlage den Sack und meine den Esel.
Noch vor der Wahl hatte Merkel mit dem ganzen Gewicht ihres Amtes um die Unterstützung für ihren langjährigen Vertrauten geworben. „In der Abwägung zwischen Erfahrung und Erneuerung habe ich mich für die Erfahrung entschieden“, sagte sie nach Angaben von Teilnehmern. CSU-Chef Horst Seehofer schloss sich den Argumenten der Kanzlerin an und würdigt die „gute Zusammenarbeit“ mit Kauder, auf ihn sei stets „Verlass“. Doch die Fraktion will sich nicht mehr von oben vorschreiben lassen, was sie tun soll und was nicht. Genau seine bedingungslose Treue und Loyalität zur Kanzlerin werden für den 69-Jährigen, der als Kind am liebsten Zirkus-Direktor werden wollte, nun zu seinem größten Manko.
„Als Fraktionsvorsitzender schafft man sich im Laufe der Zeit wahrlich nicht nur Freunde“, erklärt Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der FU Berlin. Allerdings habe bislang die Alternative gefehlt, die sich nun aber in Person von Ralph Brinkhaus präsentiert habe. „Dass es diese Alternative nun gab – vor allem das ist auf die Unzufriedenheit mit der Kanzlerin zurückzuführen“, sagt Faas am Abend unserer Zeitung.
Zudem verstärken, wie mehrere Abgeordnete übereinstimmend unserer Zeitung sagen, auch die Bewerbungsreden von Brinkhaus und Kauder den Stimmungsumschwung in letzter Minute. Brinkhaus habe die Argumente Merkels aufgenommen und ins Gegenteil verdreht, habe ausdrücklich für den Neuanfang und den Aufbruch geworben, an das Selbstbewusstsein der Abgeordneten appelliert und ein neues „Wir-Gefühl“ beschworen. In der Fraktion würden „viele Potenziale brachliegen“, den gravierenden Vertrauensverlust der letzten Tage und Wochen könne man nicht mit einem Weiter-so wettmachen.
Kauder dagegen bleibt blass und kann nicht überzeugen. „Er hat es nicht geschafft, den Nerv der Fraktion zu treffen“, sagt ein führendes Fraktionsmitglied unserer Zeitung. Und ein anderer Abgeordneter bringt in einer SMS mit drei simplen Worten die Stimmung auf den Punkt: „Die Fraktion lebt!“
Was nun, Frau Merkel? Um 17.45 Uhr tritt die Kanzlerin vor die Kameras und macht in einem einminütigen Statement deutlich, welche Konsequenzen sie aus der Abwahl ihres Vertrauten für sich selbst ziehen will: keine. „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es auch nichts zu beschönigen“, sagt sie in einer kurzen Stellungnahme. Da sie aber möchte, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion „erfolgreich weiterarbeitet“, werde sie Brinkhaus, „wo immer ich das kann, auch unterstützen“. Auch für CSU-Chef Horst Seehofer kommt die Abwahl von Kauder überraschend. Das Ergebnis sei zu respektieren, sagt er hinterher kurz angebunden. „Es war knapp“, erklärt er später. „Wir haben das Ergebnis als Demokraten zu respektieren.“ Und auf die Frage, ob die Parteiführung die Stimmung in der Fraktion falsch eingeschätzt habe, antwortet er, man müsse jetzt mit den Abgeordneten reden.
Ob das reicht? „Allen, die gegen Kauder gestimmt haben, muss klar gewesen sein, dass sie damit die Kanzlerin schwächen“, erklärt Politikwissenschaftler Faas. „Ob es eine Schwächung in diesem Ausmaß wirklich werden sollte, weiß man nicht – aber die Außenwirkung ist natürlich entsprechend.“
Und so ist wohl allen klar, dass an diesem Nachmittag im September mehr passiert ist als nur ein Wechsel an der Spitze der Fraktion. Von einer „Revolte“ gegen Merkel, einem „Erdbeben“, ist in Berlin die Rede, von „Merkel-Dämmerung“, vom „Anfang vom Ende der Ära Merkel“. Die Fraktion begehrt auf, emanzipiert sich, zeigt der Kanzlerin die Grenzen ihrer Macht und dringt auf einen personellen wie inhaltlichen Wechsel. Der bislang eher unauffällige und spröde Finanzfachmann aus Gütersloh, ein Mann der nüchternen Zahlen, nicht der markigen Worte, wollte seine Kandidatur zwar nicht als einen Anti-Merkel-Akt sehen, steht aber doch für einen deutlich konservativeren Kurs und ein schärferes eigenständiges Profil der Union in der Großen Koalition.
Und dort, im konservativen Lager, bricht deshalb regelrechter Jubel aus. „Der sensationelle Sieg von Herrn Brinkhaus zeigt, wie groß sogar in der bisher sehr folgsamen Fraktion der Wunsch nach einem inhaltlichen und personellen Neuanfang an der Spitze ist“, sagt Alexander Mitsch, Vorsitzender der Werteunion. Das Ergebnis sei ein klares Votum in Richtung der Parteivorsitzenden, den bisherigen Kurs, besonders in der Asylpolitik, endlich zu ändern. „Mit dem heutigen Tag hat die Merkel-Dämmerung unwiderruflich begonnen“, sagte Mitsch. „Für die Union eröffnet dieser erste Dominostein die Chance, zukünftig mit einem wieder klaren christdemokratischen Profil zu alter Stärke aufzulaufen.“
Für Angela Merkel brechen schwere Zeiten an. Traditionell ist die Unionsfraktion Machtbasis jeder Kanzlerschaft. Kann Merkel sich nicht mehr auf den breiten Rückhalt in der Fraktion verlassen, dürfte jede halbwegs kniffelige Abstimmung im Plenum für sie künftig zur Zitterpartie werden. Gut möglich, dass sie dann irgendwann doch noch die Vertrauensfrage im Parlament stellen muss – wie einer ihrer stärksten Kritiker, FDP-Chef Christian Lindner, empfiehlt.
Brinkhaus weiß aber auch, wie groß die Erwartungen derer sind, die ihm ihre Stimme gegeben haben. So gibt er sich denn auch in der Stunde seines bislang größten Triumphes demonstrativ bescheiden. „Eins ist klar: Die Fraktion steht ganz fest hinter Angela Merkel“, sagt er. Er freue sich auf eine enge und vertrauensvolle Kooperation mit Merkel. „Da passt zwischen uns kein Blatt Papier.“ Nun gehe es darum, ganz schnell wieder an die Arbeit zu gehen. Er wolle das tun, „was die Menschen von uns erwarten: nämlich an der Sache zu arbeiten“. Und das, immerhin, würde auch Angela Merkel nicht anders sagen.
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