
Im Piratenparadies


Während den etablierten Parteien Mitglieder davonlaufen, gewinnt die Piratenpartei im großen Stil dazu. Was fasziniert die Leute an den Piraten? Ein Ortstermin in Augsburg.
Ein Dienstagabend, 20 Uhr. Der Ort heißt Haifischbar. Ausgerechnet Haifischbar. Der Stammtisch der Piratenpartei ist eröffnet. In dem Lokal, das in der Augsburger Altstadt liegt, riecht es ein wenig nach abgestandener Luft. An der Wand hängt eine Weltkarte, in einem Gefäß ist ein Plastikhai versenkt. Ein Teil der Wand ist mit Bambus verkleidet, sonst sind die Räume dunkel gehalten. Kaum vorstellbar, dass eine CSU oder SPD, eine der etablierten Parteien eben, sich in so einer für hiesige Verhältnisse ungewöhnlichen Lokalität treffen würde. Zu Piraten aber passt die Haifischbar wie der Ozean zum Haifisch.
Immer mehr Menschen strömen in die kleine Kneipe schräg gegenüber der berühmten Puppenkiste. Die Wirtin fährt sich mit der Hand durchs dunkle Haar und empfiehlt den Verantwortlichen ein wenig genervt: „Nächstes Mal reserviert ihr besser.“ Die Aufregung der Frau ist nachvollziehbar. Es wird immer enger in der Bar, normalerweise ein Szenetreff mit tendenziell jüngerem Publikum. „Wohin mit den ganzen Leuten?“, fragt sie. Fritz Effenberger bleibt da die Ruhe selbst: „Wir haben, was Organisation betrifft, noch nicht so viel Erfahrung. Das wird schon werden“, antwortet er und lächelt dabei. Am Ende behält er recht. Es kommt zu keinem Streit um die raren Plätze.
Aus dem Stand heraus 8,9 Prozent
Effenberger ist Vorsitzender der Piratenpartei in Schwaben. Wer das nicht weiß, würde den in schwarzen Jeans leger gekleideten 51-jährigen Journalisten politisch eher den Grünen zuordnen. Kein Anzug, keine Krawatte, lässig nach hinten gekämmte graue Haare. An einem Stehtisch lehnend beobachtet Effenberger zusammen mit seinem Stellvertreter David Krcek den Andrang der meist jungen Leute. „Ich bin selbst überrascht, was sich seit der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin tut“, wundert er sich. Dort haben die Piraten im September aus dem Stand heraus 8,9 Prozent erreicht. Effenberger ist schon seit eineinhalb Jahren aktiv. Augsburg, sagt er, sei eine der Hochburgen der Piraten in Deutschland. In den letzten Wochen hätten sie über 40 neue Mitglieder gewonnen. Etwa 170 sind es insgesamt, in Bayern stieg ihre Zahl auf 2500.
„Wir kommen gar nicht mehr mit der Bearbeitung der Anträge hinterher“, hat der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz bereits Mitte Oktober verkündet. Seit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September seien mehr als 3000 Mitgliedsanträge bei der Partei eingegangen. Täglich entschieden sich 150 Bürger für eine Mitgliedschaft.
Die Partei entspricht dem Geist der Zeit
Die Piratenpartei entspricht dem Geist der Zeit, heißt es landauf, landab in den Kommentaren der Beobachter. Mittlerweile räumen das auch die etablierten Parteien ein, die sie bis vor Kurzem belächelt haben. Da dümpelten die Freibeuter allerdings auch noch im Nirwana unbedeutender Kleinparteien umher. „Doch mit dem Erfolg in Berlin wurde vieles anders“, sagt Effenberger und rückt sich die schwarze Hornbrille zurecht. Die Piraten seien mittlerweile gut aufgestellt und böten gerade politikverdrossenen Bürgern eine Perspektive.
Viele Experten stärken seine These. Der Berliner Politologe Oskar Niedermayer sagt beispielsweise: „Das ist kein Berliner Phänomen. Ich glaube, dass die Piraten mit dem Thema Internet und Datenschutz einen sehr guten Markenkern haben.“ Andere sind nicht so optimistisch: „Für die Piraten wird es sehr schwer werden, mit ihrem Programm in weniger linksliberalen Kreisen außerhalb Berlins zu punkten“, kontert sein Kollege Uwe Jun von der Universität Trier.
Kuriose Forderungen
Kritik an ihrem wenngleich sehr einseitigen Parteiprogramm, das auch kuriose Forderungen wie einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr enthält, lassen die schwäbischen Piraten an sich abperlen. Sie glauben daran, dass Bahn und Bus gratis sein könnten, wenn andernorts stärker gespart würde. Eigene Prioritäten setzen, nennen sie das. Als Nichtregierungspartei geht das problemlos. David Krcek erzählt von Aktivitäten, die sie als erste eigene Erfolge sehen. So verteilen die Piraten in Bayern gerade ein Büchlein mit Kinderliedern, das sie selbst drucken ließen, damit die Kindergärten keine Gema-Gebühren bezahlen müssen. Eigentlich seltsam. Denn gewählt werden die Piraten weniger von Familien, sondern eher von Singles.
Die Quellen der politischen Organisation sind längst analysiert. Diese setzt sich – glaubt man den Experten – grob umrissen aus drei unterschiedlichen Wählergruppierungen zusammen: Das sind einmal die sogenannten „Digital Natives“. Sie sind jung und verbringen viel Zeit im Internet, vor allem in sozialen Netzwerken wie Facebook. Sie schätzen den coolen Auftritt und die Online-Kommunikation der Piraten. Um Politik geht es ihnen dabei nicht vorrangig.
Hinzu kommen die Befürworter einer Basisdemokratie, wie es sich die Piraten auf die Fahnen geschrieben haben. Sie sind mit der Parteiendemokratie unzufrieden und fordern eine neue politische Kultur, die eben gerade aufgrund der modernen digitalen Möglichkeiten basisdemokratischer organisiert wird.
Meist jüngere Männer mit guter Bildung
Und dann sind da noch diejenigen, die die Piraten vor allem aufgrund der politischen Perspektive, der digitalen Revolution sowie als Datenschutz- und netzpolitische Vorreiterpartei schätzen. Meist sind es jüngere Männer mit guter Bildung und hoher Affinität zur computerisierten Kultur.
Einer von ihnen ist Georg Schwarting. Der etwas unscheinbare 39-Jährige kommt das erste Mal zum Stammtisch der Piraten. Er hat sich schon über das Grundsatzprogramm informiert und umschreibt sein politisches Ziel ziemlich präzise: „Ich möchte Teil der digitalen Revolution sein. Denn ich glaube, dass wir durch die Digitalisierung zu einer neuen Gesellschaftsform kommen, ähnlich der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.“
Das sind große Worte. Langsam wird es warm in der Haifischbar, der Sauerstoffgehalt sinkt. Gedrängt sitzen vielleicht 30 Menschen um die Tische. Viele sind zum ersten Mal da. Ein junger Mann mit ausgeprägtem Kinnbart begrüßt die Neuen. Sie haben sich schon in politische Diskussionen verstrickt. Es geht um Tagesaktuelles, aber auch um klassische Piratenthemen wie den Datenschutz. Die Szene hat für Außenstehende durchaus etwas Aufbruchhaftes. Parteimitglieder händigen den Neuen Broschüren und das Parteiprogramm aus. In einem unterscheiden sich die Piraten allerdings nicht von den anderen Parteien: Auch sie verteilen Kugelschreiber – in Orange, ihrer Farbe.
Auffällig ist: Man hat eine Männergesellschaft erwartet. In der Tat lag der Frauenanteil der Piraten bisher sogar unter dem der CSU. Das Profil eines „Durchschnittspiraten“ könnte man, stark vereinfacht, etwa so beschreiben: Computer-Fan, Single, vielleicht Pferdeschwanz, schwarze Kleidung, zwischen 18 und 35 und natürlich männlich. „Eine Frauenquote gibt es bei uns nicht“, sagt Schwaben-Vize Krcek. Schließlich gehe es nicht darum, per se Frauen nach vorne zu bringen, sondern gute Leute. Und außerdem sei man in der Piratenpartei über die klassischen Geschlechterfragen wie männlich oder weiblich, homo oder hetero weitgehend hinaus.
Kein Frauenmangel festzustellen
Zumindest an diesem Abend ist kein Frauenmangel festzustellen. Zwei Jugendliche, die nach Schülerinnen aussehen, blicken sich suchend um. „Ihr kommt zum Stammtisch?“, fragt Effenberger. Die beiden nicken. Sie stellen sich vor: Laura Kehlenbach und Stefanie Wiedersatz. Sie sind Schülerinnen am Augsburger Maria-Stern-Gymnasium. Die eine ist 17 und die andere 18 Jahre alt. Ihre Einstellung hört sich sehr erwachsen an: Es sei doch selbstverständlich, sagen sie, sich politisch zu engagieren.
Schon jetzt finden sie viel Lob für die Piraten. Laura sagt: „Ich wollte mich schon lange einbringen. Aber ich habe keine Partei gefunden, die meine Anliegen transportiert. Die Piratenpartei mit ihrem basisdemokratischen Ansatz sagt mir zu.“ Sie nickt, als Stefanie mit ernster Miene hinzufügt: „Ich habe die Hoffnung, dass die Piraten nicht so realitätsfern sind wie die anderen Parteien.“
Unter anderem ist sie verärgert über den überstürzten Atomausstieg der Bundesregierung. Auch sie sei gegen Atomkraft, aber so mit aller Gewalt, so kurzfristig alle Pläne umwerfen, da habe sie kein gutes Gefühl. Vielleicht wird sie den Piraten beitreten. „Ja, warum nicht?“ Sagt es, schüttelt ihre Haare und sucht mit ihrer Freundin nach einem Stuhl.
Dann geht es doch noch mal um das Frauenthema. Fritz Effenberger stellt die bislang einzige Frau im Vorstand der schwäbischen Piraten vor. Katrin Eberhard heißt sie, 28 Jahre, klein, blonde Haare, Leiterin eines Kindergartens. Sie arbeitet schon seit eineinhalb Jahren in den Führungsgremien mit – für Piratenverhältnisse eine halbe Ewigkeit. Katrin Eberhard sagt, sich fühle sich bei den Piraten gut aufgehoben. Sie könne sich wunderbar einbringen, mitmachen sei hier noch gefragt. Wahrscheinlich stimmt es, auch wenn es ein wenig so klingt, als hätte sie die Antwort einstudiert.
Während sie sich drinnen die Köpfe heißreden, unterhalten sich draußen vor der Tür die Raucher unter den Piraten. Da ist einer dabei, der sein Glück vor wenigen Jahren bei einer anderen Partei gesucht hat, die den Bürgern vor der letzten Bundestagswahl Hoffnung machte. Das war die FDP. „Die haben mich so enttäuscht, da kann ich nicht bleiben“, sagt der junge Mann. Jetzt versucht er, bei den Piraten eine neue Heimat zu finden. „Mal sehen, vielleicht klappt es hier.“ Sein erster Eindruck sei positiv, sagt er noch. Nicht nur wegen des geschenkten Kugelschreibers.
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