Vor 20 Jahren erweiterte sich die Europäische Union und überwand die Spaltung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Plädoyer, endlich mehr Europa zu wagen.
Wer jemals daran gezweifelt hat, ob es richtig war, die Osterweiterung der EU zu vollziehen, der könnte vielleicht eine Reise nach Tallinn unternehmen. Wer zum Schloss Toompea spaziert und von dort oben, wo das demokratische Parlament seinen Sitz hat, über die Hauptstadt Estlands blickt, sieht gut, was sich hier im Nordosten der EU in den vergangenen 20 Jahren entwickelt hat. Doch wer hier steht, weiß auch: St. Petersburg, wo Putins Aufstieg zum Diktator Russlands begann, liegt gerade einmal 300 Kilometer entfernt.
Es war auch die Angst vor dem imperialistischen Nachbarn, die Estland am 1. Mai 2004 zur EU (und unter den Schutzschirm der Nato) gezogen hat. Zehn Jahre zuvor, 1994, hatte es beim Hamburger Matthiae-Mahl einen Skandal gegeben. Putin, damals noch Vizebürgermeister von St. Petersburg, verließ erbost den Festsaal im Rathaus, nachdem der estnische Staatspräsident Lennart Meri den Russen vorgeworfen hatte, wieder nach der Vorherrschaft im Osten zu streben. 30 Jahre später steht die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas auf der Fahndungsliste des Kreml.
In der EU wurde ein Leben in Freiheit möglich
Der Austritt aus der Sowjetunion und der Eintritt in die Europäische Union hat sich für den kleinen baltischen Staat überaus gelohnt. Das gilt für Lettland, Litauen, Malta, Zypern, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn – was keiner besser weiß als Viktor Orbán selbst – genauso. Und es gilt für den Rest der EU. Die Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wurde überwunden. Historisch ist das ein Wert an sich. Ein Leben in Freiheit wurde möglich.
Zugleich ist die Osterweiterung eine Bereicherung – im Wortsinn. Vom regen Handel treibenden Binnenmarkt profitieren innerhalb der ökonomischen Großmacht EU bekanntlich alle. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche hat gerade bestätigt, dass die ostmitteleuropäischen Länder ihren ökonomischen Aufholprozess fortsetzen. Und das Ifo-Institut hat den hiesigen Skeptikern, die einst fürchteten, Arbeitende aus den neuen EU-Staaten könnten den Deutschen ihre guten Jobs wegnehmen, das Gegenteil aufgezeigt. Denn, so heißt es: Menschen von dort seien hier vor allem in Berufen tätig, die aufgrund niedriger Löhne oder ungünstiger Arbeitsbedingungen "für heimische Arbeitskräfte wenig attraktiv sind". Anders formuliert: Die Leute erledigen, was die Deutschen offensichtlich nicht tun wollen.
Macron und Scholz können im Mai zeigen, was sie für Europa noch erreichen wollen
Für die EU sollte der Jahrestag der Erweiterung mehr als nur Ansporn sein. Explizit für Deutschland und Frankreich. Der französische Präsident hat recht, wenn er in seiner zweiten großen Sorbonne-Rede davor warnt, Europa könne sterben. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz bisher wenig mehr als einen Tweet dazu veröffentlicht hat, in dem er die "guten Impulse" lobt, zeigt erneut, wie die Sprachlosigkeit im deutsch-französischen Verhältnis gerade den europäischen Fortschritt gefährdet. Kritiker werfen Macron zu Recht vor, er solle weniger reden und mehr (Waffen für die Ukraine) liefern. Trotzdem füllt er rhetorisch eine Lücke, die weder Angela Merkel noch Olaf Scholz zu schließen in der Lage waren und sind. Er spricht aus, was sein könnte. Ende Mai ist Macron auf Staatsbesuch in Deutschland. Dann haben er und Scholz Gelegenheit zu zeigen, dass sie gemeinsam für Europa noch etwas erreichen wollen und können, bevor es zu spät ist. Nicht zuletzt die ostmitteleuropäischen Staaten würden es ihnen danken. Vor allem das EU-Bewerberland Ukraine.
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Die EU wird nur eine Zukunft haben, wenn es eine Aussöhnung mit Russland geben wird. Die europäischen Staaten haben sich nach dem 2. Weltkrieg mit den Deutschen versöhnt, weil erkannt wurde Deutschland gehört zu Europa. Russland kann man nicht von Landkarte ausradieren und so gibt nur diplomatische und politische Lösungen, wie Russland eines Tages wieder in die europäische Staatengemeinschaft aufgenommen werden kann auch zum wohle des gemeinsamen Marktes.
Gunther Kropp, Basel
Das Problem mit Russland ist, dass es sich seit Jahrhunderten im Dauerkriegszustand befindet und die Diktatoren sich die Türklinke reichen. Ein Staat, der sich mit Russland eine gemeinsame Grenze teilt, steht im Prinzip unter ständiger militärischer Bedrohung. Ein friedliches Nebeneinander ist nur möglich, wenn ein Kräftegleichgewicht herrscht. Wir hatten diplomatische und politische Lösungen mit Putin, aber im Prinzip hat er uns nur für unsere Schwäche ausgelacht. Ein weiteres Mal hat er gelacht, als die Welt teilnahmslos zusah, wie er die Krim annektierte.
Die Schweiz hat einfach nur das das Glück, vom Schutzschild der NATO zu profitieren, ohne irgendeinen Beitrag dafür zu leisten. Aus dieser bequemen Position lässt sich trefflich über eine perfekte Welt diskutieren.
Dieses Rußland ist und kann kein Nachbar sein
Dazu müssen zuallerst der Diktator, seine gesamte Entourage, alle die ihn gestützt, bejubelt und seine Befehle ausgeführt haben in Militär, Justiz, Medien, Gesellschaft vor Gericht gestellt, bestraft, lebenslang ins Gefängnis kommen.
Und die Russen müssen für Alles, was sie inder Ukraine, aber auch in Georgien, Tschetschenien und soweiter angerichtet haben, bezahlen
Jedes ukrainische Dorf muß aufgebaut werden, von den Russen bezahlt, jedes Kriegsopfer entschädigt werden
Erst dann und auch erst, wenn sich die Russen mit ihrer Geschichte heschäftigen, mit all was Lenin Stalin und Co. verbrochen und angerichtet haben, kann man schauen, in welche Richtung Rußland aich entwickelt und ob die guten westlich orientierten Russen - etwa die Erben Nawalnys-erstmalig in der Geschichte die Oberhand geqinnen !
Vorher nicht!
@Gunter K.: Ihrer Analyse kann ich zustimmen. Und es wird auch soweit kommen - allerdings erst wenn die Russlandhasser ausgestorben sind.:) Selbst Nord- und Südkorea werden irgendwann in ein Normalverhältnis kommen - und wenns noch 50 Jahre dauert.
Wikipedia: "Die Liste der Kriege und Schlachten Preußens beinhaltet die Kriege und Schlachten, in die Preußen und sein Vorgänger Brandenburg-Preußen im Verlaufe seines Bestehens verwickelt war."
@Gerold R.
Antwort von Gunther Kropp, Basel
Sie schreiben: "Das Problem mit Russland ist, dass es sich seit Jahrhunderten im Dauerkriegszustand befindet und die Diktatoren sich die Türklinke reichen." Dann schauen mal die Liste der Kriege und Schlachten die Preussen geführt an, um ständig grösser und mächtiger zu werden. Bekanntlich hat Preussen das Deutsche Reich 1871 geformt. Hitlers-Vernichtungsfeldzug im Osten sollte man auch zur Kenntnis nehmen. Das Hitlerreich ging unter. Der sowjetische Diktatur Stalin, der mit Hitler zusammen den polnischen Staat aufteilen konnte, bekam 1945 von den Alliierten Osteuropa ausgeliefert, weil er mitgeholfen hat Hitlers-Verbrecher-Reich zu besiegen. Die Historiker werden in einigen Jahren beurteilen können, ob die Nato-Osterweiterung klug war und zum Ukraine-Krieg führte. Wenn die Westeuropäer nach 1945 gesagt hätten, die Deutschen werden sich nie ändern, die sind gefährlich und unberechenbar und müssen isoliert werden - was wäre wohl aus Europa geworden?
@Maria T.
Antwort von Gunther Kropp, Basel
Politik ist ein eiskaltes Geschäft, wenn es um Lösungen geht wie Zukunft sein wird, dann werden die Kriegsverbrechen ausgeklammert und eines Tages aufgearbeitet werden, so wie es möglicherweise bei allen Konflikten und Kriegen der Fall war.
@WOLFGANG B
Antwort von Gunther Kropp, Basel
Die die Deutsch-französisches Erbfeindschaft ist in den Köpfen der Menschen schon lange nicht mehr vorhanden und so wird es auch eine europäische-russische Aussöhnung geben. Alte Weisheit: Wen man will, ist alles möglich.
Ja, ich stimme Ihnen vollkommen zu Herr Kopp, eine Aussöhnung mit Russland wird stattfinden, wie es mit Deutschland geschehen ist: der Diktator der sein eigenes Volk über die Klinge springen ließ im eigenen Bunker erschossen und nach einer absoluten Niederlage reumütig zurückkehren und die eigenen Fehler eingestehen und daraus lernen.
Bis zu diesem Punkt muss halt noch einiges Wasser die Moskva runterfließen, und leider Gottes wahrscheinlich noch einiges Blut von russischen Jugendlichen und Männern den Dnjepr hinab.
Eine EU-Erweiterung - egal in welche Richtung - halte ich künftig vor dem aktuell geltenden Einstimmigkeitsprinzip für völlig unverantwortlich. Eine weitere EU-Erweiterung darf erst dann kommen, wenn sich die EU vom Einstimmigkeitsprinzip, hin zu einem Mehrheitsprinzip, verabschiedet hat. Ansonsten schafft sich das demokratische und rechtsstaatliche Europa selbst ab, wie es Macron völlig richtig bereits ausgeführt hat. Gerade in den angedachten Ländern handelt es sich bei weitem noch nicht um langfristig gereifte und massiv gefestigte Demokratie mit Rechtsstaatlichkeitsanspruch. Die politische Landschaft kann in diesen "jungen" Demokratien schnell wieder kippen. Dann haben wir es mit noch mehr Autokraten ala Orban zu tun, die die Gemeinschaft in vielerlei Hinsicht erpressen, wenn sie ihre eigenen Interessen nicht vollumfänglich anderweitig durchsetzen können.
In Ungarn gab es freie Wahlen. Ungarn verfolgt eine "Ungarn zuerst"-Politik, ebenso wie (analog) die USA.
Diese Europa Erweiterungen sind nur ein loser Zusammenschluss.. es hat ja keinen festen Bestand, denn es geht ja nur gegen Russland.. Ich würde gerne von gemeinschaftlichen Vorzügen hören.. ein Minister der östlichen Ländern sagte es, wir sind froh in der EU zu sein, es geht uns dadurch besser. Es sind arme Länder die jetzt von Brüssel Gelder bekommen und wen sich der Krieg erledigt hat.. geht es um das einbringen in die europäische Gemeinschaft.. und dann müssen diese Länder liefern und man wird sehen wie der europäische Gedanke aussieht.. Europa ist für mich eine tolle Sache .. aber so ist alles nur auf losen Sand gebaut statt fest auf Stein..! Wie weit und wie stark der gemeinschaftliche Gedanke geht, wird sich zeigen wenn es um den Aufbau Ukraine geht.. !
Nur weil sie die Vorteile nicht sehen (wollen?) heißt es nicht dass es sie nicht gibt.
Und selbst wenn der einzige Vorteil für diese Länder ein Schutz vor dem großen Nachbar Russland ist - so what?
Muss ja wohl einen Grund geben warum sich so viele Länder die aus den Klauen einer Diktatur lossagen so gerne unter das Dach der EU begeben...
Und dass sich Länder wie Polen und die baltischen Staaten nicht einbringen - das ist seit dem russischen Überfall auch ein sehr absurder Vorwurf.
MARTIN G@ Wir wissen beide dass die Weltbevölkerung nicht gut ist und dieses Friede, Freude, Eierkuchen Getue nur solange anhält wie es allen dabei gut geht.. morgen kann es ganz anders aussehen.. Russland ist nicht unser einziges Problem sondern weitere korrupten, diktatorischen Länder und da gibt es in unserer europäischen Gemeinschaft einige mehr.. nicht nur Ungarn..! Bis heute sind die meisten Nehmerländer.. warten wir ab bis sie in der Gemeinschaft auch Geberländer werden..!
Wer soll das vorrangig finanzieren? Der Deutsche Michel?
Eine Verpflichtung soll es also sein, einen Sack voller Pleite Länder, die dauerhafter Nehmer sein werden und damit den EU und damit auch den BRD Haushalt massiv belasten werden und gleichzeitig durch erhebliche Produktion etwa in der Landwirtschaft dieser in den alten Mitgliedsstaaten Schaden zufügen werden. Eine abstruse Forderung.
https://de.euronews.com/my-europe/2024/03/07/bericht-beitritt-der-ukraine-konnte-den-eu-haushalt-136-milliarden-euro-kosten
Was denn nun - Pleiteländer oder agrarische Supermächte die alles niederwalzen?
Die Geschichte zeigt bisher: der Handel Deutschlands mit den neuen EU Ländern wächst, der Wohlstand der neuen Partner steigt und es ist ein beidseitig gewinnbringendes Geschäft.