Die Tour de France und ihre Tourbulenzen
Die Tour de France brachte Helden hervor und produzierte unfassbare Dramen. Aber sie versank auch im Dopingsumpf. Nur langweilig war die Tour de France in ihren 100 Auflagen nie.
Mensch, der Greipel, hätten sie früher gesagt, gewinnt der doch ’ne Etappe. Und der Kittel hat auch schon eine gewonnen, wow. Dann hätten sie nachmittags um drei zu vielen Hunderttausenden die Rollläden im Wohnzimmer runtergelassen und sich vor den Fernseher gesetzt. Die ARD hätte jeden einzelnen französischen Asphaltmeter live in die Stube geholt, Reporter-Urgestein Herbert Watterott jedes vorbeifliegende Kirchlein kunsthistorisch eingeordnet und sein Kollege Jürgen Emig jeden einzelnen Fahrer getätschelt und umschmeichelt.
Früher, das war, bevor die Fahrer Armstrong, Ullrich, Pantani, Basso, Riis, Zabel, Sinkewitz, Winokurow, Contador ... das wichtigste Radrennen der Welt und damit eine ganze Sportart in den Dopingsumpf gesteuert haben. Nun rollt die 100. Auflage der Tour de France seit einer Woche durch das Nachbarland, hierzulande medial versteckt im Spartensender Eurosport, weshalb die Erfolge der bislang zwei deutschen Etappensieger André Greipel und Marcel Kittel unter Deutschlands Fernsehsportlern eher ahnungsloses Schulterzucken hervorrufen. Und die ARD, einst umstrittener Geldgeber bei Ullrichs Team Telekom, bemüht sich in satirischen Einminutendreißig-Beiträgen im Morgenmagazin um Wiedergutmachung, indem sie schon mal die optische Wirkung der Fahrer mit der der Teletubbies gleichsetzt.
Es geht um Sekunden. Aber es geht auch um Substanzen
Eine Tour ohne Tricksen, Tarnen und Täuschen halten viele heute für pure Illusion. Wie war das gestern? Große sportliche Momente, die das Rennen seit der ersten Auflage 1903 hervorgebracht hat, Stoff für stundenlange Diskussionen an den Stammtischen, verblassen beim Blick auf die nicht enden wollende Ahnengalerie der Sünder.
Die Tour, in den vermeintlich guten alten Zeiten, das war doch oft nur eine Sache, in der es um Sekunden ging. Acht, läppische acht davon fehlten dem Franzosen Laurent Fignon 1989 auf dem Endspurt von Versailles nach Paris, um oben auf dem Siegertreppchen zu stehen. Dabei hatte er vor der letzten Etappe mit einer knappen Minute Vorsprung geführt. Dann überholte ihn noch der US-Profi Greg LeMond. Fignon mochte bereits 1983 und 1984 gesiegt haben – die knappste Niederlage der Tour-Geschichte erlitten zu haben, war bitter.
Manchmal wiederum ging es gerade um die beeindruckende Lektion, in Würde knapp am Triumph zu scheitern. So wie Raymond Poulidor, ebenfalls Franzose, der achtmal auf dem Siegerpodest stand, allerdings nie ganz oben. Als „ewiger Zweiter“ ging er mehr in das französische Nationalgedächtnis ein und wurde dort stärker zur Identifikationsfigur als jeder Tour-Gewinner. Von Poulidors riesigem Sympathiewert profitierte sogar eine Punkrock-Gruppe, die sich nach dem legendären Rennfahrer benannte, der es so oft beinahe ganz nach oben geschafft hätte.
Aber oft ging es bei der Tour eben auch um schlechte, da unehrliche Gewinner und Verlierer, um Doping, Lügen und Betrug. Gerade in den vergangenen Jahren, in denen Skandale das Ereignis derart erschütterten, dass sich Sponsoren und Medien zurückzogen. Das absurd anmutende Blutdoping-Geständnis des deutschen Tour-Gewinners von 1997, Jan Ullrich, das dennoch kein Anerkennen von Schuld sein sollte, bestätigt einmal mehr, wie skrupellos nicht nur verbotene Mittel zur Leistungssteigerung verwendet, sondern diese auch geleugnet wurden. Und werden? Dem Image jedenfalls droht dauerhafter Schaden, auch wenn Tour-Direktor Christian Prudhomme standhaft verkündet: „Die Tour wird es immer geben.“
Und Täuschungsmanöver vermutlich auch. Schon in den 20er Jahren wurde mit Cocktails aus Kokain, Koffein, Alkohol und Chloroform experimentiert. 1967 starb der Brite Tom Simpson, der sich für einen steilen Anstieg in glühender Hitze mit Alkohol und Amphetaminen gestärkt hatte. Seither gibt es Doping-Kontrollen. Bei der zweiten Auflage 1904 wurden die ersten fünf der Siegerliste im Nachhinein disqualifiziert, weil sie einige Abschnitte einfach im Zug gefahren waren. Heute sind die Betrugsmethoden subtiler. Manche sagen, viele Dopingproben seien heute nur deshalb ohne Befund, weil die Dopingmethoden immer raffinierter werden. Und der Mythos leidet weiter.
Denn ein Mythos ist die Tour de France gerade in Frankreich noch immer. Zwar findet sie nun zum 100. Mal statt, aber es gibt sie schon seit 110 Jahren, da sie während der beiden Weltkriege zeitweise ausgesetzt wurde. Mehr als 15 Millionen Menschen, davon rund 80 Prozent Franzosen, die im Schnitt aus einem Umkreis von 130 Kilometern anreisen, strömen jedes Jahr an die Straßenränder, um den Fahrern fulminante Empfänge zu bereiten, um die Volksfeststimmung zu erleben oder auch nur, um etwas von dem Zuckerwerk abzufangen, das von den seit 1930 mitfahrenden Werbekarawanen fliegt. Immerhin: Nach den Olympischen Spielen und der Fußball-Weltmeisterschaft gehört die Tour nach Zuschauerzahlen zu den drei meistbeachteten sportlichen Ereignissen weltweit.
Michael Krüger, Sporthistoriker an der Universität Münster, will die Dopingprobleme nicht kleinreden und zitiert den französischen Philosophen Roland Barthes: „Den Fahrer zu dopen, ist ebenso kriminell, ein ebenso großes Sakrileg, wie Gott imitieren zu wollen; es ist, als stehle man Gott das Vorrecht des Funkens.“ Trotzdem sagt der Professor: „Für Frankreich ist die Tour ein nationales Epos, ein Nationalereignis, das die Franzosen verbindet.“ Nicht zufällig habe die diesjährige Auflage auf Korsika begonnen. „Vielleicht kann es in Zukunft eine Tour d’Europe geben, die dieselbe Funktion für eine europäische Identität erfüllt“, schlägt Krüger gegenüber unserer Zeitung vor.
Dem französischen Sportjournalisten Pierre Ballester zufolge schalten laut einer Studie die meisten Fernsehzuschauer nicht wegen des Rennens, sondern der Landschaften ein. Zumal am Rande der Tour – ganz im Stile des früheren ARD-Mannes Watterott – touristische Sehenswürdigkeiten und gastronomische Spezialitäten aus den Regionen präsentiert werden. „Im Grunde schaut man mehr Frankreich als die Tour“, behauptet Ballester. „Der Radsport wird fast zu einem Alibi.“
Und doch werden sich die Franzosen – Blutdoping und Amphetamine hier, Sightseeing dort – wie in jedem Jahr besonders wieder von den Bergetappen in den Bann ziehen lassen. Die auf den Mont Ventoux in der Provence, auf den Anstieg Le Bourg-d’Oisans im alpinen Wintersportort L’Alpe d’Huez, auf den weniger steilen, aber umso berühmteren Klosterberg Mont-Saint-Michel am Ärmelkanal. Als glorreicher Abschluss ist die Fahrt von Versailles ins nächtliche Paris am 21. Juli geplant mit dem traditionellen Endspurt über die Pracht-Avenue Champs-Elysées und dem Abschluss am Triumphbogen.
Die Tour, das war ursprünglich nichts anderes als der Coup einer Zeitung, die ausgerechnet L’Auto hieß und Vorgänger der Sportzeitung L’Équipe war. Mit der Sport-Veranstaltung wollte Zeitungsdirektor Henri Desgrange das Konkurrenzblatt Le Vélo („Das Fahrrad“) ausbremsen. Die Premiere am 1. Juli 1903 erregte großes Aufsehen. 60 Abenteuerlustige brachen vom Pariser Vorort Montgeron aus nach Lyon auf. Zwei Gendarmen hoch zu Ross mussten die Menge bändigen, damit das historische Peloton überhaupt losfahren konnte.
Der erste Sieger war ein Schornsteinfeger
Die erste Tour gewann ein gelernter Schornsteinfeger namens Maurice Garin – ohne Gangschaltung und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von gut 25 Stundenkilometern. Rasch etablierte sie sich als jährlich stattfindende Veranstaltung mit wechselnden Strecken und echten Volkshelden. Bis heute haben weit mehr als 10 000 Radrennfahrer teilgenommen, die über 500 französische Städte passiert haben.
Zwar sind die Dopingskandale auch in Frankreich ein Thema, die die Glaubwürdigkeit des ganzen Spektakels infrage stellen, doch sind dort die Tour selbst und die Berichterstattung über sie weniger umstritten als in Deutschland. Zumal zwei der auflagenstärksten französischen Zeitungen, das Sportmagazin L’Équipe und die Pariser Stadt-Gazette Le Parisien, herausgegeben werden von der Pressegruppe Philippe Amaury, der Muttergesellschaft des Tour-Organisators Amaury Sport Organisation.
Auch die Politiker entziehen sich nicht der allgemeinen Faszination für das Großereignis. Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy, selbst passionierter Hobby-Radfahrer, sprach einst von einem „großen Moment nationaler Einheit“. Seine Bewunderung für Lance Armstrong, den er mehrmals empfing, dessen Name aber zwischenzeitlich aus den Siegerlisten gestrichen wurde, war so offensichtlich, dass Medien vom Verdacht berichteten, der frühere Präsident habe den US-Profi gedeckt. Von Sarkozy stammt auch die Aussage, die Tour sei „Opfer des Dopings, nicht schuld daran“. Manchmal geht es bei der Tour eben auch um die Perspektive.
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