Commerzbank-Experte: "Das wird ein anspruchsvolles Börsenjahr"
In der Ukraine kommt es zum Krieg mit Russland. Was das für die Wirtschaft und die Börse bedeutet, erklärt Commerzbank-Chefanlagestratege Chris-Oliver Schickentanz.
Herr Schickentanz, welche Folgen hat der Ukraine-Krieg für die Wirtschaft und die Kapitalmärkte?
Chris-Oliver Schickentanz: Vor allem ist es eine humanitäre Tragödie. Und natürlich hat der Konflikt auch ökonomische Auswirkungen.
Welche sind dies? Ist Russland ein derart wichtiger Handelspartner?
Schickentanz: Wenn man sich die wirtschaftliche Bedeutung Russlands für den Westen ansieht, könnte man total entspannt sein. Wir reden über 0,5 Prozent der EU-Exporte, die nach Russland gehen, wir reden über weniger als ein Prozent russischer Titel in den europäischen Bankbilanzen. Zwei Aspekte dürfen wir aber nicht außer Acht lassen.
Welches sind die kritischen Punkte für unsere Wirtschaft?
Schickentanz: Der erste kritische Punkt sind die Energiepreise. Wir sind gewissermaßen in unserer Energieversorgung von Russland abhängig. Deutschland bekommt rund 25 Prozent der Öl- und Gas-Importe aus Russland. Der zweite kritische Punkt ist die wirtschaftliche Stimmung. Der Konflikt könnte die Erholung, die wir gerade bei den Unternehmen und den Konsumenten sehen, ein Stück weit aufschieben. Das wäre schlecht für die Konjunktur.
Der Dax ist abgestürzt. Wie könnte es an der Börse weitergehen?
Schickentanz: Die meisten Großinvestoren hatten sich interessanterweise nicht auf eine militärische Eskalation des Ukraine-Konflikts eingestellt, also große Publikumsfonds, Pensionskassen oder Versicherungen. Wir gehen derzeit für die Aktienmärkte noch von maximal fünf bis sieben Prozent Abwärtspotential aus. Die Anleihemärkte könnten im Gegenzug eine positive Entwicklung zeigen. Das heißt, das Ganze dürfte ein eher kurzfristiger Einbruch an der Börse sein. Im Gegenteil könnte es für mittelfristig orientierte Anleger sogar eine Gelegenheit sein, Aktien zu kaufen.
Welche Folgen könnten die Sanktionen für unsere Wirtschaft haben?
Schickentanz: Bisher sind die Sanktionen begrenzt, beispielsweise Nord Stream 2 nicht zu eröffnen. Es bleibt abzuwarten, wie die weiteren Sanktionen aussehen werden. Kommen keine ganz harten Sanktionen zum Zuge, bleibt der wirtschaftliche Schaden eher begrenzt. Die Ukraine-Krise könnte zudem zu einem Umdenken führen, das uns langfristig helfen wird ...
Das müssen Sie uns erklären ...
Schickentanz: Die Ukraine-Krise und der Stopp für Nord Stream 2 könnten der Beginn sein, unsere Energieversorgung stärker zu streuen und abzusichern. Hier ist zum Beispiel der Import von Flüssiggas aus anderen Ländern per Schiff ein Thema, aber auch der Ausbau der erneuerbaren Energien im Land.
Der Konflikt ist militärisch eskaliert, es kommt zum Krieg. Was sind die wirtschaftlichen Folgen?
Schickentanz: In einer militärischen Eskalation gibt es Abstufungen. Heißt es, dass Russland auch andere Gebiete als die Ostukraine besetzt? Heißt es, dass auch westliche Streitkräfte kämpfen? Wenn die direkte Konfrontation mit dem Westen ausbleibt, wird auf Dauer die konjunkturelle Erholung nicht verhindert.
Die rasanten Zugewinne an den Börsen in den letzten Monaten verpuffen gerade. Ist es mit den guten Zeiten am Aktienmarkt erst einmal vorbei? Wie ist Ihre Einschätzung?
Schickentanz: Ursprünglich hatten wir bei unserer Prognose im November mit einem guten ersten Börsenhalbjahr 2022 gerechnet und anschließend mit größeren Schwankungen und Korrekturen. Das Ganze hat sich nun durch die Ukraine-Krise ein halbes Jahr nach vorne verlagert, aber auch dadurch, dass die US-amerikanische Zinswende durch die hohe Inflation nicht erst in der zweiten Jahreshälfte, sondern schon jetzt auf dem Programm steht. Es war zu erwarten, dass der Paradigmenwechsel in der internationalen Geldpolitik – weg von der Politik des billigen Geldes, hin zu steigenden Zinsen – zu einer höheren Nervosität an den Finanzmärkten und der ein oder anderen Korrektur an der Börse führen wird. Das ist aber nicht das Ende des Aufwärtszyklus.
Sie haben eine gewisse Hoffnung für die Aktienmärkte?
Schickentanz: Mit der konjunkturellen Erholung ab dem zweiten Quartal sollte ein Treiber an die Märkte zurückkehren. 2022 wird aber ein anspruchsvolles Börsenjahr. Wir werden viele Mini-Zyklen an den Märkten erleben, weil viele konjunkturelle Ereignisse in kurzer Zeit stattfinden: Wir werden uns aus der Phase hoher Inflation und wirtschaftlicher Stagnation hin zu wirtschaftlichem Wachstum bewegen, darauf wird wieder eine konjunkturelle Abkühlung folgen. Mal werden deshalb an den Märkten Value-Titel gefragt sein, also Firmen mit hohem Substanzwert, mal werden Growth-Titel gefragt sein, also Firmen mit schnellem Wachstum. Dem kann man eigentlich nur begegnen, wenn ich mein Depot sehr, sehr breit aufstelle.
Große Tech-Konzerne in den USA wie die Facebook-Mutter Meta haben zuletzt an der Börse massiv an Wert verloren. Was ist der Grund dafür?
Schickentanz: Ab März 2020 – nach Ausbruch der Pandemie – haben vor allem Technologiewerte wie diese die Börsen nach oben getrieben. Wir glauben nicht mehr, dass es 2022 ein derart dominierendes Thema an den Börsen geben wird.
Was hat Meta & Co. so zugesetzt?
Schickentanz: Zum einen belastet der Zinsanstieg in den USA Tech-Werte wie Meta. Hohe Aktienkurse rechtfertigen sich aus zukünftigen Erträgen. Der Wert künftiger Erträge ist aber geringer, wenn aktuell der Zins hoch ist. Zum zweiten hat man bei einigen Titeln wie Meta hinterfragt, ob die hohen Wachstumserwartungen realistisch sind. Das ist dann ein doppelter Dämpfer nach unten. Wir sehen hier eine Korrektur, nachdem wir uns in der Pandemie die Welt zu einem Teil schöngeredet und Digitalisierung als Lösung aller Probleme angesehen haben. Geschäftsmodelle, die dagegen Erwartungen übererfüllt haben, wie die Google-Mutter Alphabet, schlagen sich besser.
Haben klassische Aktien wie Autowerte oder BASF wieder eine Chance?
Schickentanz: Ja, wir werden 2022 erleben, dass sich die Old Economy besser schlägt als sie es 2020 und 2021 getan hat. Die Aktien sind günstig, die Dividendenausschüttungen hoch, dazu kommt die Fantasie, dass mit der konjunkturellen Belebung die Gewinne anziehen. Bei den Autos kommt hinzu, dass sich Probleme wie Chipmangel abschwächen sollten, sodass die Produktion wieder hochgefahren werden kann.
VW strebt einen Börsengang mit Porsche an. Was die Motivation dafür aus Anlegersicht?
Schickentanz: Es geht bei solchen Ausgliederungen darum, Werte zu heben und transparent zu machen. Wir haben zuletzt in der Industrie mehrere Spin-Offs gesehen, zum Beispiel bei Siemens mit Siemens Energy und Siemens Healthineers. Auch VW hat sicher das Ziel, mit einem Börsengang von Porsche den Wert transparent zu machen, ohne die Kontrolle aber ganz abzugeben.
Wie können sich Anlegerinnen und Anleger verhalten?
Schickentanz: Eskaliert die Ukraine-Krise nicht massiv, können wir ein gutes Wirtschaftsjahr 2022 erleben. Mit diesem wirtschaftlichen Rückenwind steigen die Unternehmensgewinne, auch die Dividenden bewegen sich auf ein neues Rekordniveau zu. Das kann Lust auf Geldanlage machen. Ich denke, dass wir an den Aktienmärkten das Schlimmste gesehen haben, auch wenn es noch Korrekturen geben sollte. Wenn die Nacht dunkel ist, traut sich keiner rein, wer dann doch dazu den Mut hat, wird häufig belohnt. Das hat sich auch nach dem Börseneinbruch in der Corona-Krise gezeigt, als noch keiner wusste, was von dem Virus zu halten ist.
Ein anders Thema: Die Inflation in Deutschland ist stark gestiegen, auf 3, dann 4, dann 5 Prozent. Wann erwarten Sie, dass die EZB reagiert?
Schickentanz: Ich denke, dass sich die Europäische Zentralbank bereits auf der nächsten Sitzung reagiert und sich zum Beispiel alarmiert zeigt angesichts der hohen Inflation und die Zusage zurücknimmt, dass man dieses Jahr keine Zinsschritte plant. Das ist der Vorbereitungsschritt. Dass die EZB den Leitzins von derzeit null Prozent anhebt, ist dagegen eher eine Frage für die zweite Jahreshälfte. Durch die Ukraine-Konflikt könnte die Zinswende sogar nochmals nach hinten geschoben werden, um nicht das zarte Pflänzchen der konjunkturellen Erholung abzuwürgen. Neben dem Leitzins von null Prozent gibt es noch den Zins von minus 0,5 Prozent, den Banken selbst für ihre Einlagen bei der EZB zahlen müssen. Wir gehen davon aus, dass die EZB diesen Zins bis Ende dieses Jahres in zwei Schritten auf null anhebt.
Der Minuszins von 0,5 Prozent belastet gerade die Banken, die diesen dann an die Kunden weitergeben musste. Gehören bald Strafzinsen der Vergangenheit an?
Schickentanz: Die Negativ- und Nullzins-Phase wird in den nächsten zwei Jahren zu Ende gehen. Ich glaube aber, dass wir noch lange niedrige Zinsen sehen werden. Selbst wenn der Leitzins auf 1,5 oder 2 Prozent steigt, wäre das historisch gesehen immer noch sehr niedrig.
Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Ukraine-Konflikt.
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