Wie ein Augsburger zu einer Seemanns-Legende wurde
Immo von Schnurbein machte Abitur in Landsberg, lebt in Augsburg und war Kommandant des Schulschiffs Gorch Fock. Jetzt wird er 80 - und hat viel zu erzählen.
Wie das war, gemeinsam mit ihm an Bord? Beispielsweise so: Die „Gorch Fock“ durchpflügt die Irische See. Kurs Cork. Es ist halb zwei Uhr nachts, stockdunkel, irgendwann im November, um null Grad, etwa drei Windstärken. Plötzlich schallt ein lauter Ruf über das Mitteldeck: „Matrose auf die Brücke!“ Der Gerufene nimmt die Beine unter die Arme und spurtet los zur Befehlsentgegennahme. Die kräftige Stimme gehört dem Ersten Offizier: Immo von Schnurbein.
„Von Schnurbein ist ein Mann, den alle in hohem Maß respektieren, Kadetten ebenso wie die Stammbesatzung.“ So beschreibt ein ehemaliger Offiziersschüler in einem Zeitungsartikel fast 40 Jahre nach seiner Militärzeit den späteren Kapitän auf der Gorch Fock, dem Segelschulschiff der Deutschen Marine, das vor 60 Jahren in Betrieb genommen wurde. Immo von Schnurbein würde dies nie über sich selbst sagen. Eigenlob ist seine Sache nicht. Vielleicht erinnern sich auch deshalb noch viele Kameraden an ihn. 14 Jahre fuhr er auf der Gorch Fock, davon fast sieben bis Dezember 1992 als Kommandant. Er legte als „erste deutsche militärische Einheit“ mit 220 Mann in Israel an. Einmal umfuhr er mit der Gorch Fock sogar die Welt.
Ganz sachlich erzählt er von solchen Erlebnissen, kurz vor seinem 80. Geburtstag am Sonntag, den der zweifache Vater und dreifache Opa im Kreis der Familie feiern wird. Seemannsgarn spinnt er nicht. „Die Seefahrt als Abenteuer hat mich nie interessiert“, sagt von Schnurbein. Kapitän sei ein ernster Beruf mit viel Verantwortung. Wenn er so dasitzt auf seiner Terrasse daheim im beschaulichen Augsburger Stadtteil Spickel, mit einer Tasse Tee in der Hand, die Arme vor der Brust verschränkt, und in den durch eine Baumreihe begrenzten Garten blickt, sieht das aus, als würde er meilenweit über das Meer zum Horizont schauen. Seemannsblick wohl. Dabei gibt es in der näheren Umgebung nur den Lech und den Kuhsee – in von Schnurbeins Gewässerdimensionen vermutlich nicht mehr als eine Pfütze oder ein größeres Rinnsal.
Er diente auf 26 Schiffen, auf 22 als Kapitän
Die Gorch Fock, sagt er, sei nur eine Episode in seinem Berufsleben gewesen. Der Mann hat auf 26 Schiffen gedient, auf 22 als Kapitän. Allein das klingt rekordverdächtig. Noch immer fährt er regelmäßig zur See. Seinen 75. Geburtstag hat er zusammen mit seiner Frau auf der Brücke der Windjammer-Legende „Sea Cloud“ verbracht. Danach wollte er seinen Job an den Nagel hängen, sagt er. Eigentlich...
Gerade ist er von der „Alexander Humboldt“ zurückgekehrt. Sie ist Deutschlands jüngstes und größtes ziviles Segelschulschiff. Im September 2011 wurde der 65 Meter lange Dreimaster in Bremerhaven getauft. Das ist sein heutiger Arbeitsplatz. Richtig gehört, der Mann arbeitet noch, obgleich er finanziell darauf längst nicht mehr angewiesen ist.
Von Schnurbein sieht auch nicht aus, wie man sich einen Rentner mit 80 vorstellt. Er ist kein Riese, aber sein drahtiger Körper steht noch immer unter einer Spannung, die für das Alter ungewöhnlich ist. Das soldatisch Aufrechte ist ein wenig an ihm haften geblieben. Wäre das anders, könnte er seinen Beruf vermutlich nicht mehr ausüben.
Weil von Schnurbein aber in der internationalen Schifffahrtsszene noch immer gut vernetzt ist, kam er zu diesen ehrenamtlichen Aufträgen im Spätherbst seiner Kapitänskarriere. Geld bekommt er dafür nicht, aber er kann sein Leben als „Meerversteher“ weiterleben. Auch mit seinem Sohn und dem Enkel war er schon auf der Alexander Humboldt unterwegs. „Da konnte der Kleine endlich mal sehen, was ich so mache“, sagt er. Und sein Sohn hat unter ihm schon ein Jahr lang auf der Gorch Fock als Toppsmatrose gedient. „Der war schon eine Fachkraft, auf die ich zählen konnte“, betont von Schnurbein. Er meint das als großes Kompliment. Normale Landratten können Seemänner wohl eh nicht wirklich verstehen. Direkt spricht von Schnurbein das nicht aus, aber zwischen den Zeilen klingt es deutlich durch.
Eine Frage ist unumgänglich: Wie kommt ein Bayer, dessen Familie schon vor dem Dreißigjährigen Krieg in Augsburg wohnte, zu einer Lebensaufgabe auf hoher See? Ein feines Lächeln huscht über sein Gesicht. Das habe mit seinem Vater zu tun, sagt er. Dieser, ebenfalls Augsburger, sei 1926 in die damalige Reichsmarine eingetreten. „Er hat seinen Beruf geliebt“, weiß von Schnurbein. In der Nacht vom 7. auf den 8. März 1941 hat er während des Zweiten Weltkriegs auf dem U-Boot U47 sein Leben gelassen.
Kaum hatte er das Abitur, wollte er zur Marine
Weil die Arbeit des Vaters in der Familie so sehr in Erinnerung blieb, war Immo von Schnurbein schon seit der Kindheit von der Schifffahrt begeistert. Und kaum hatte er das Abitur, das er in Landsberg machte, beschloss er, sich der Marine anzuschließen. Es war wohl die richtige Entscheidung: „Ich habe das gefunden, was ich wollte. Das Handwerk gefällt mir“, sagt er. Die unangenehmste Zeit seines Berufslebens seien drei Jahre Büroarbeit im Verteidigungsministerium gewesen.
Im Grunde aber verbrachte er sein ganzes Leben auf dem Meer. Und in Häfen. Einmal, in Samoa, ging ein schwergewichtiger, würdig gekleideter Mann barfuß an Bord. Der entpuppte sich als der Präsident des Landes. Lieblingshäfen, Lieblingsstädte oder Ähnliches hat von Schnurbein nicht. Bei einem Eiland, von dem man es nicht erwartet hätte, kommt er allerdings fast ins Schwärmen. „Die schönste Insel ist für mich Mallorca“, erzählt er und weist darauf hin, dass es richtiggehend ein Hochgefühl sei, wenn man vom Sueskanal kommend daran vorbeisegle. Überhaupt hält er das Mittelmeer für eine der lieblicheren Weltgegenden.
Nicht nur die Erde spielt bei ihm eine Rolle, auch der Himmel darüber – und das im evangelischen Sinn. Von Schnurbein haucht dem alten Begriff der christlichen Seefahrt neues Leben ein. Der Mann ist gläubig. „Mit der Hilfe Gottes habe ich alles geschafft.“ Nur von Stürmen, peitschendem Meer oder seinen Ängsten erzählt er eher ungern. Dann aber doch. Da sind die schier unendlich langen Nächte in schwerer See. Die Vorstellung, ein Mitglied der Mannschaft könnte über Bord gehen. Das bange Gefühl, die Kontrolle über das Schiff zu verlieren. „Es gibt drei Gegenden, in denen man besonders auf der Hut sein muss“, sagt von Schnurbein. „Das Gebirge, die Wüste und das Meer.“
Da fällt ihm noch eine Geschichte ein. Auf Hinweis seiner Frau erzählt er, wie er mal auf dem Weg von Baltimore zu den Azoren einem Hurrikan ein Schnippchen geschlagen hat, indem er ihn schlicht umsegelte. Oder er erzählt, als er nach seiner Militärzeit beim Sultan von Oman anheuerte, um auf einem Schulschiff als Muqqadam Bahriya zu arbeiten, was in unserem Verständnis einem Fregattenkapitän oder einem Oberstleutnant im Heer entspricht. „Ich war einer der wenigen Christen unter all den Muslimen“, erinnert er sich.
Wenn einer so viel Zeit auf dem Meer verbringt, freut er sich besonders auf die Rückkehr. „Das ist mir das Allerliebste. Nur wer wegfährt, weiß, wie schön das Heimkommen ist“, zitiert er einen Spruch. Früher kam er nach monatelangen Fahrten regelmäßig am 19. Dezember zu Hause an, um Weihnachten mit seiner Frau und den Kindern zu feiern.
Allerdings kann er es in dem schönen Bungalow, dessen Garten von einer Mauer umgeben ist, die ähnlich weiß ist wie die Gorch Fock, offenbar auch nicht länger aushalten. Immer wieder zieht es ihn aufs Meer hinaus. In den kommenden Tagen wird er zu einem Urlaub in Frankreich aufbrechen. Dann geht es erneut auf die Alexander Humboldt. Noch in diesem Jahr wird er an einer Regatta von Stavanger, einer Stadt an der Südwestküste Norwegens, ins niederländische Harlingen teilnehmen.
Seine Frau Wiebke, mit der er in zweiter Ehe zusammenlebt, kennt das nicht anders und hat es akzeptiert. Während er auf den Weltmeeren schippert, kümmert sie sich um das Haus und den großen Garten. Frauen von Seeleuten sind eigenständig und unabhängig. Was ihn heute ein wenig reut, ist der Umstand, dass er, als seine Kinder noch klein waren, sie immer wieder alleine zu Hause lassen musste.
Noch einmal landet das Gespräch bei der Gorch Fock. Der Dreimaster wird derzeit wieder für den Einsatz flottgemacht. Bis zu 135 Millionen Euro kostet das – was die Diskussion ausgelöst hat, ob sich ein solcher Aufwand für ein Schulschiff lohnt, für das mal 8,5 Millionen Mark ausgegeben wurde. „Diese Summe macht mich schon nachdenklich“, meint von Schnurbein. Für ihn ist es allerdings kein vergeudetes Geld: „Ich bin schon der Meinung, dass so eine Segelschul-Ausbildung gerade in unserer digitalen Zeit noch sinnvoll ist“, sagt er. Und schiebt nach: „Vielleicht sogar gerade da.“
Und dann ist da die Schattenseite der Gorch Fock
Er kommt auch auf die Schattenseite der Gorch Fock zu sprechen. Vor knapp acht Jahren stürzte eine Kadettin unter ungeklärten Umständen von einem Mast und starb. Der Ausbildungsbetrieb wurde daraufhin unterbrochen und das gesamte Schiff infrage gestellt. Zu rau der Ton, zu hart die Sitten, hieß es. Ein Reputationsschaden blieb bis heute. Von Schnurbein gehört allerdings nicht zu denen, die dem damaligen Kapitän die Schuld geben: „Der konnte nichts dafür.“
Trotz des Unfalls, der sich im Rahmen der Segelvorausbildung ereignete: Auf der Gorch Fock zu dienen, galt und gilt unter Marinesoldaten noch immer als Traum. Doch das Leben an Bord ist nicht leicht. „Es ist kein Zuckerschlecken, es fordert jeden Einzelnen hart.“ Immo von Schnurbein kennt die Entbehrungen und die Verantwortung auf so einem Schiff; die kleine Welt in der Welt, deren letzte Instanz er als Kommandant ist. Er hat diese Verantwortung nie gescheut und nimmt sie noch heute auf sich.
Als Kapitän, der übrigens auch eine Einzelkämpferausbildung absolviert hat, wertet er die Anstrengungen auf seine ganz eigene Art: „Ein Schiff zu kommandieren mag anstrengend sein. Die Zug- und Flugreisen zum jeweiligen Einsatzhafen sind für mich inzwischen längst lästiger als die Fahrt auf See.“ Aber so lange sein Körper mitmacht, nimmt er auch diese Strapazen gerne auf sich.
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