Ist uns in der Corona-Krise die Solidarität verloren gegangen?
Die Corona-Zahlen steigen - das muss Gründe haben. Aber welche? Experten raten von voreiligen Schlüssen ab.
Es waren Bilder, die Gänsehaut-Potenzial hatten: Mütter, Väter, Kinder, Großeltern standen abends auf dem Balkon, um dem Pflegepersonal für ihren Einsatz in der Krise zu applaudierten. Das war im März. Heute, ein Dreivierteljahr später, klatscht niemand mehr, bemerkte die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek in dieser Woche bei einem Auftritt in Berlin.
Das RKI meldet trotz Kontaktbeschränkungen jeden Tag neue Rekordzahlen bei den Corona-Neuinfektionen und Toten; Daten belegen, dass sich die Deutschen in den vergangenen Wochen weit weniger eingeschränkt haben als noch in der ersten Welle der Pandemie. "Es ist an einigen Stellen ein Schlendrian eingekehrt", sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und fordert einen Mentalitätswandel ein. „Wir müssen noch konsequenter handeln“, bittet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ans Volk gewandt. Haben wir tatsächlich die Solidarität verlernt in dieser Krise?
Zumindest die Zahlen deuten darauf hin. Seit mehr als zehn Tagen schon steigen sie wieder deutlich an – obwohl schon im November ein „Lockdown light“ galt und die Politik beinahe täglich appelliert und mahnt. Und doch reicht alleine die Statistik nicht, um das Phänomen zu erklären. Denn: Bei mehr als 80 Prozent der Covid-Fälle lässt sich der Infektionsweg nicht nachvollziehen. Arbeit oder Freizeitspaß – das ist offen. Dort, wo man um die Infektionskette weiß, landet man häufig im Alten- und Pflegeheim, in Flüchtlingsunterkünften oder im privaten Umfeld.
Experten vermuten, dass auch schwache Kontakte, wie etwa im Supermarkt oder im Bus mitverantwortlich für den starken Anstieg sind, doch die lassen sich nur sehr schwer zurückverfolgen und als Ursache belegen. Auch deshalb setzt die Politik mit dem harten Lockdown auf ein umfassendes Herunterfahren der persönlichen Kontakte.
Umfragen zeigen: Die Mehrheit steht hinter den Corona-Regeln der Regierung
„Im Frühjahr waren die Leute vermutlich verunsicherter, heute haben sich viele ein wenig an die Krise gewöhnt – und sie können auch das Risiko besser einschätzen“, sagt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach. „Ich sehe allerdings nicht, dass sich an der Grundhaltung der Bevölkerung groß etwas geändert hat.“ Ein Indiz dafür ist die Zustimmung der Menschen zum Lockdown: Umfragen würden nach wie vor einen starken Rückhalt für die Regierung und auch für die harten Maßnahmen zeigen. Schon im Frühjahr habe sich gezeigt, dass sich die Bevölkerung regelrecht um die Regierung geschart habe – es hat die Stunde der Exekutive geschlagen. Und daran habe sich bis heute nichts geändert. „Es gibt keinen nennenswerten Ärger über die Regierungspolitik“, sagt Petersen.
Noch im Herbst 2019, also vor Ausbruch der Pandemie, hat mehr als die Hälfte der Menschen in einer Allensbach-Umfrage noch gesagt, dass die Regierung zu schwach sei. Im April 2020 erklärten Dreiviertel der Befragten: Die Regierung leistet gute Arbeit. Im November sagten dies immerhin noch zwei Drittel. „Der Zuspruch ist ein bisschen runtergegangen, der Unmut wächst an der einen oder anderen Stelle – aber wir bewegen uns nach wie vor auf einem hohen Niveau der Zustimmung“, sagt Petersen.
Unruhe entstehe immer dann, wenn Regeln den Menschen nicht einleuchten. „Die Regierung muss durchaus aufpassen, dass sie den Bogen nicht überspannt – die Geduld ist nicht endlos, aber ich sehe im Augenblick noch kein grundsätzliches Kippen der Situation“, sagt der Meinungsforscher. Natürlich gebe es das, was die Wissenschaft die „kognitive Dissonanz“: die Lücke zwischen dem, was man für richtig hält und dem, was man tatsächlich tut. Oder anders gesagt: Man redet sich das eigene Verhalten schön. „Aber von einer aufrührerischen Stimmung sind wir weit entfernt“, betont Thomas Petersen.
Psychologe kritisiert: Die Corona-Regeln sind zu verwirrend
Auch der Psychologe Ralph Hertwig warnt vor voreiligen Schlüssen. „Dass wir gegenwärtig das Gefühl haben, weniger solidarisch zu sein, ist vielleicht einfach nur ein fast unvermeidliches Stadium eines normalen Entwicklungsprozesses“, sagt Hertwig. Die Gesellschaft habe sich nach dem großen gemeinsamen Schock wieder in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Der eine habe mehr Wissen, der andere weniger, der eine habe die Erfahrung gemacht, dass Corona nicht mehr als ein Schnupfen sei, der andere sei auf der Intensivstation gelandet.
Doch auch die Politik selbst sei an der Entwicklung nicht unbeteiligt. „Das, was manche Politiker gerade als Schlendrian bezeichnen, könnte auch eine Mischung aus Unsicherheit und einer gewissen Resignation sein“, sagt Hertwig. Die Corona-Regeln seien bisweilen verwirrend und uneinheitlich. „Die sich ändernden Corona-Regeln erschienen einem fast wie ein Dschungel, in dem man sich nicht mehr zurechtfindet.“
Wie lässt sich die Stimmung wieder drehen?
Für die Politik ist das eine gewaltige Herausforderung. Deutschland ist nach Einschätzung der Bundesregierung momentan in der bisher schwierigsten Phase der Corona-Krise. „Wir haben jetzt eine Situation, die so schwierig ist, wie sie in dieser Pandemie in diesem Land noch nicht war“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag.
Um also wieder eine Stimmung des Zusammenhalts und der Solidarität zu erzeugen, sei es erforderlich, genau an dieser Stellschraube zu drehen. Klare und einfache Regeln könnten helfen, das Land wieder in eine gemeinsame Richtung marschieren zu lassen. Und auch die aktuelle Entwicklung könnt dabei paradoxerweise helfen. „Genau das, was wir gerade erleben —immer höhere Infektionszahlen, furchterregend steigende Todeszahlen — könnte so ein taktgebendes Schockmoment sein“, sagt Ralph Hertwig. Anders gesagt: Die Angst ist es, die den Schlendrian vertreiben könnte.
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Die Solidarität geht uns doch schon seit zwanzig Jahren schleichend verloren. Corona macht es nur sichtbarer. Rücksicht, Bescheidenheit und Verantwortung sind nur noch leere Worthülsen für die Ellenbogengesellschaft in der nur noch Geld, der eigene Wohlstand und Selbstoptimierung, -Darstellung im Vordergrund stehen. Reichtum und Wohlstand machen blind für diese immateriellen Werte. Krankenhäuser müssen wie Wirtschaftsunternehmen geführt werden, das Pflegepersonal kann vielerorts nicht vom eigenen Verdienst leben und benötigt Zweitjobs, während manch einer, der wegen Krankheit auf Pflege angewiesen ist, mit dem neuesten Luxusbomber vorfährt und sich am Stammtisch über seinen letzten Aktiengewinn freut und prahlt das er doch rechtzeitig in Biotech-Aktien oder Amazon investiert hat.
Ich hoffe dass uns diese Krise die Augen öffnet. Sonst sehe ich schwarz für unser Zukunft und die unserer Kinder.
Solidarität ist doch für 99,99% ein tatsächlich gelebtes Fremdwort. Dies trifft natürlich nicht in der täglichen "Rede" auf sie zu sondern im täglichen "Tun". Zuerst komme ich, dann komme ich und dann ... .
Das war schon immer so und damit werden unsere Kinder auch durchs Leben gehen müssen.
Man kann in einer landesweiten/nationenweiten Pandemie Erkrankungen und Todesfälle nicht vermeiden !
Es mag zwar theoretisch möglich sein , zu versuchen , Todesfälle auf ein absolutes Minimum zu beschränken - dann hätte man aber tatsächlich ab
dem ersten Corona-Monat eine
totale, monatelage AusgangsSPERRE
erlassen müssen .
Eine derartige , brutale Maßnahme ist aber in den westlichen Gesellschaften absolut undenkbar sowie wirtschaftlich und gesellschaftlich der Todesstoß !
Derartiges ist in der Diktatur China unter Zuhilfenahme militärischer Bewachungsmaßnahmen möglich ( und wurde dort auch umgesetzt) , hier ist Derartiges jedoch absolut unmöglich .
Insofern muß man sich einfach ehrlich machen und eingestehen , daß - auch mit gewissen Freiheitsbeschränkungen als Virus-Vorsorge- die weitere Verbreitung des Virus sowie Krankheits- und Todesfälle "dazugehören" , bis die "Herdenimmunität durch Impfung" erreicht ist .
"Das RKI meldet trotz Kontaktbeschränkungen jeden Tag neue Rekordzahlen".
Hat man sich vielleicht mal darüber Gedanken gemacht, dass diese ganzen Einschränkungen wie Maskenpflicht im Freien, Schließung der Restaurants, etc. nicht die Hauptursache der Ansteckungen sind?!?
ÖPNV, Arbeitsplätze in der Produktion und Großraumbüros, unzureichende Schutzmaßnahmen in den Supermärkten (keine ausreichende Desinfektion der Einkaufswagen, unkontrollierte Kunden wie z.B. Messung der Temperatur Kontrolle des Gesichtsschutzes, getrennte Ein- und Ausgänge) hier lauern die größten Gefahren neben den unzureichenden Schutzmaßnahmen in den Pflege- und Altenheimen, Asylbewerberunterkünfte und anderen, ähnlichen Einrichtungen. Hier muss schleunigst das Personal und jeder Besucher täglich getestet werden, um die Bewohner ausreichend vor Ansteckungen schützen. Das hätte schon viele Monate vorher geschehen müssen.