60 Jahre Anwerbeabkommen: Vom Gastarbeiter zum Mindelheimer
Vor 60 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter vom Bosporus nach Deutschland. Wir trafen eine Familie, die in vierter Generation in Mindelheim und der Türkei lebt - und unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat.
Mit nichts als einem Koffer, null Wissen, aber Mut und großen Hoffnungen auf ein besseres Leben hat sich Mahmut Özer vor mehr als 50 Jahren auf den Weg gemacht. Am 21. Juli 1970 bestieg er als junger Mann in Istanbul eine Condor-Maschine, die wenige Stunden später in München landete. Von dort ging es weiter nach Aitrach, wo er bei einer Baufirma als Maurer anfing. Seine Frau Firdes sah er erst zwei Jahre später wieder.
Mahmut Özer gehört zur ersten Generation von Gastarbeitern, die in Deutschland ihr Glück suchten. Haben die Arbeiter aus der Türkei ihr Lebensglück in Deutschland gefunden? Oma Firdes lässt da keinen Zweifel und strahlt über das ganze Gesicht: Alles gut, sagt sie. Wie entbehrungsreich die Anfangsjahre für sie, ihren Mann und die Kinder waren, davon spricht sie nicht.
Wie alt das türkische Ehepaar ist, weiß man nicht genau
Firdes und Mahmut sind 87 Jahre alt, vielleicht auch das eine oder andere Jahr jünger. So genau war das bei ihrer Geburt nicht notiert worden. Die beiden Rentner leben heute in zwei Welten. Die meiste Zeit des Jahres verbringen sie in ihrem Heimatdorf Igdecik-Sivas in Anatolien, wo im Sommer 200 bis 300 Menschen leben und im Winter 20. Sie kommen aber auch immer wieder gerne nach Mindelheim – der Kinder Zekiye, Enkelkinder Özgü und Cem mit Familie und des Urenkels Nefes wegen. Denn alle in der zweiten, dritten und vierten Generation sind Mindelheimer geworden.
Die Türkei war bitterarm, als die Bundesregierung mit Ankara 1961 ein Anwerbeabkommen unterzeichnete. Millionen Männer suchten Arbeit, und Deutschland hatte in den Aufbaujahren nach dem Krieg jede Menge davon. Befristet auf zwei Jahre sollten türkische Arbeitnehmer in Deutschland Arbeit finden und dann wieder nach Hause fahren. An Integration oder gar an eine Bleibeperspektive hat damals niemand gedacht.
Nach Deutschland durfte nur, wer unter 40 Jahre alt war, einen Gesundheitscheck bestanden hatte und bei einem Test beweisen konnte, dass er keine zwei linken Hände hatte. Mahmut Özer nahm eine Maurerkelle zur Hand und zog eine Mauer hoch. Das war sein Ticket für Deutschland.
Anfangs lebte Mahmut Özer in einer Baubaracke, dann zog er nach Mindelheim
In Aitrach lebte Mahmut Özer zunächst zusammen mit Landsleuten in einer Baubaracke. Es war ein bescheidenes, hartes Leben. Als große Barriere entpuppte sich die Sprache. Mahmut konnte kein Wort Deutsch, und auch heute noch lässt er lieber seine Enkeltochter Özgü übersetzen, die in Mindelheim geboren und aufgewachsen ist. Die Sekretärin damals in der Baufirma behalf sich mit einem Wörterbuch, mit dessen Hilfe die notwendigste Verständigung irgendwie klappte.
Mahmuts Leben bestand aus Arbeit. In der Freizeit war er mit anderen türkischen Bauarbeitern zusammen. Zu Deutschen hatte er nur im Betrieb oberflächlichen Kontakt. Privat eingeladen wurde er anfangs nie. Sprachkurse gab es keine. Wenn er Lebensmittel einkaufte, musste er mit Händen und Füßen zeigen, was er wollte. „Es war schlimm für Opa, dass er sich nicht äußern konnte“, erzählt seine Enkelin.
Ihn hat aber ein eiserner Wille getragen. Mahmut ist in einem armen Dorf in Anatolien aufgewachsen. Es gab dort weder eine Wasserleitung noch eine Kanalisation. Eine Schule hatte er nie besuchen dürfen. Die Armut überwinden, das war in all den Jahren sein großes Ziel.
Gastarbeiter haben von Deutschland profitiert - und Deutschland von den Gastarbeitern
Mahmut hat das für sich und seine Familie geschafft. „Wir haben es durch Deutschland zu Wohlstand gebracht“, lässt Mahmut seine Enkelin übersetzen. Dass es auch der Fleiß der Gastarbeiter war, der Deutschlands Wohlstand gemehrt hat, das sagt er nicht.
Nachdem Mahmut Özer nach zwei Jahren in Aitrach zur Firma Glass nach Mindelheim als Bauarbeiter wechselte, kaufte er ein Haus in der Kreisstadt, das noch heute seiner Familie gehört. Aber er hat auch nie seine Heimat vergessen. Dass es heute in Igdecik-Sivas fließendes Wasser und eine Kanalisation gibt, dafür hat Mahmut gesorgt – mit seiner Hände Arbeit in den Ferien, aber auch mit seinem Geld aus Almanya.
Seine Enkelin Özgü erzählt, dass die Familie die Sommerferien immer in der Türkei verbracht hat. Das ist auch heute noch so. Da wurden dann Häuser gebaut oder eben auch Wasserleitungen verlegt. Faulenzerei gab es nicht.
Tochter Zekiye kam im Alter von 15 Jahren nach Mindelheim. Auch sie sprach anfangs kein Deutsch und hatte es sehr schwer in der Schule. Aber auch sie hat sich mit viel Fleiß durchgebissen, die Hauswirtschaftsschule besucht und später in einer Reinigung gearbeitet.
Die Özers haben sich in der Alevitischen Gemeinde in Mindelheim engagiert
Mahmut hat aber auch in Mindelheim Spuren hinterlassen. Er war der erste Vorsitzende der kleinen Alevitischen Gemeinde in der Kreisstadt, zu der knapp 90 Menschen zählen. Der Mann seiner Enkelin, Bayram Özer, hat heute den Vorsitz inne. Brückenschlag zur einheimischen Bevölkerung war ihm dabei genauso wichtig wie die Pflege der eigenen Kultur. Das Sommerfest der Aleviten auf dem Marienplatz, bei dem jeder willkommen ist, ist sichtbares Zeichen des Miteinanders.
In Mindelheim haben die Özers längst Freunde auch unter den Deutschen gefunden. Mit Familie Ledermann verband sie ein so enges Vertrauensverhältnis, dass Herr Ledermann sogar die Bankgeschäfte für Mahmut erledigen konnte. Mahmut selbst musste ja arbeiten. Sogar Weihnachten haben sie gemeinsam gefeiert. Leider sei das Ehepaar Ledermann verstorben.
Dem 87-Jährigen, der nie eine Schule besuchen konnte, war Bildung für seine Kinder immer wichtig. Seine Frau Firdes und er haben alle angetrieben, dass aus ihnen etwas wird. Und sie haben es alle auch geschafft: Bei Grob war der Vater bis zu seinem Ruhestand beschäftigt. Sein Sohn ist in seine Fußstapfen getreten. Die Enkelin arbeitet in einem medizinischen Labor, ihr Mann Bayram ist Programmierer.
100 Interviews mit Gastarbeitern: Deutsche in der Türkei, Türken in Deutschland
Ihn beschäftigt auch die Geschichte von Gastarbeitern. 100 Interviews hat er für eine Feldstudie geführt. Sein Fazit: Sie gehören nirgendwo hin. „Sie sind weder hier, noch da. In Deutschland sind sie die Ausländer, in der Türkei die Alemanyas.“ Und wenn sie im Ruhestand in ihre Heimat zurückkehren, erkennen sie manchmal ihr Land nicht mehr wieder. Das hat sich in mehr als 40 Jahren ja auch verändert.
Firdes und Mahmut Özer leben in zwei Welten und haben zwei Zuhause. Im Herzen sind sie in der Türkei daheim. Aber Deutschland schätzen sie – für die Disziplin, für das gute Gesundheitssystem, die Bildungschancen und dafür, dass sie der Armut entfliehen konnten.
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