Joachim Gauck: Prediger der Freiheit
Im Kampf gegen das SED-Regime entdeckte Joachim Gauck die Freiheit als sein beherrschendes Motiv. In vier Wochen wird er an der Spitze des Staates stehen.
Nichts wird mehr so sein, wie es ist. Und doch will er bleiben, wie er ist und was er ist – ein „reisender Politiklehrer“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles wird anders für Joachim Gauck, eben noch freischaffender Publizist und Vortragsreisender in Sachen Demokratie, ohne eigenes Büro, ohne Sekretärin, ohne Dienstwagen und ohne Chauffeur, einer, der von seiner Berliner Wohnung aus seine Lesungen und Auftritte organisiert, ohne fremde Hilfe seine Reden entwirft und am liebsten mit der Bahn durch die Lande reist. In vier Wochen ist es damit vorbei.
Dann steht Joachim Gauck an der Spitze des Staates, gewählt von einer All-Parteien-Koalition aus CDU, CSU, FDP, SPD und den Grünen. Residiert in Schloss Bellevue, hat ein Amt mit mehr als 180 Mitarbeitern, die seinen Tagesablauf minutiös planen, Termine vereinbaren, komplette Reden anfertigen und ihn in ein enges Korsett pressen.
Kein Wunder, dass Joachim Gauck nach dem überraschenden Anruf von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihn am Sonntagabend in Berlin im Taxi erreichte, nach eigenem Eingeständnis erst mal „überwältigt und auch ein bisschen verwirrt“ ist. Schließlich sei er kein „Supermann“ und auch kein „fehlerloser Mensch“. Als Gauck später im Kabinettssaal Merkel und die anderen Parteichefs trifft, weint er vor Rührung, berichten Teilnehmer.
Mit bestehenden Verhältnissen hat sich der aufmüpfige Geist nie abgefunden
Doch Joachim Gauck, im Januar 72 Jahre alt geworden, wäre nicht Joachim Gauck, wenn er sich nicht sofort der neuen Situation stellen würde, die am Ende so unerwartet für ihn nicht gekommen ist. Schließlich galt er seit dem Rücktritt Wulffs am Freitag als Favorit für die Nachfolge. Sein ganzes Leben, so hat er früher einmal gesagt, sei davon geprägt, dass das völlig Unerwartete, das gänzlich Unmögliche eben immer doch noch eingetreten sei.
Mit den bestehenden Verhältnissen hat sich der aufmüpfige, kritische und unabhängige Geist ohnehin nie abgefunden, mochten sie noch so widrig sein. Mit elf Jahren musste der 1940 in Rostock geborene Sohn eines Kapitäns ohnmächtig erleben, wie sein Vater von Sowjets abgeholt und verschleppt wurde. Zwei lange Jahre wusste niemand, wo er war und was mit ihm geschehen war. Übrig blieb eine Familie, die sich der neuen Zeit, der neuen Obrigkeit verweigerte. „Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus“, schrieb Gauck in seiner Biografie, seitdem lebte er in dem „moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen.“
Im lebenslangen entschlossenen Widerstand gegen das verhasste SED-Regime entdeckte Joachim Gauck die Freiheit als das große, beherrschende Motiv seines Lebens. Schon mit zwölf Jahren verfiel er „dem Freiheitspathos von Friedrich Schiller“, mit 13 verfolgte er „wie ein Fiebernder“ am Radiogerät die Ereignisse des 17. Juni 1953, als im Arbeiter- und Bauernstaat DDR Hunderttausende Arbeiter gegen das SED-Regime auf die Straße gingen, mit 16 hätte er am liebsten beim Aufstand in Ungarn mitgekämpft.
Gauck ist ein Mann des Wortes: radikal, überzeugend, mitreißend
Weil er nicht Journalist werden durfte, studierte er Theologie und wurde protestantischer Pastor in Rostock-Evershagen, einer in den 70er Jahren entstandenen typischen Plattenbausiedlung auf halbem Wege zwischen der alten Hansestadt Rostock und dem hübschen Ostseebad Warnemünde. Der junge Pastor Gauck wohnte mit seiner Frau und seinen vier Kindern mitten unter den Menschen, die überwiegend von der Kirche nichts wissen wollten, argwöhnisch beäugt von den Machthabern und ihren Spitzeln.
Schon damals stellte Gauck seine Fähigkeit unter Beweis, auf die Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören, sie mit seinem Charisma einzunehmen und für seine Sache zu begeistern. Ein Mann des Wortes, radikal, überzeugend, mitreißend. In den bewegten Tagen des Wendeherbstes 1989 stieg Gauck, mittlerweile Rostocker Stadt- und Kreisjugendpfarrer, quasi aus dem Stand zum „Revolutionspfarrer“ in der Hansestadt auf, der den Menschen die Angst nahm und die Freiheit predigte. „Die Studenten lagen ihm zu Füßen“, erinnert sich sein Weggefährte Jochen Schmachtel in einem Gespräch mit unserer Zeitung.
Für das „Neue Forum“ zog Gauck im März 1990 in die erste frei gewählte DDR-Volkskammer ein, kurz vor der Vereinigung wählte ihn die Volkskammer zum Sonderbeauftragten für die Stasi-Akten, am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, bestätigten ihn Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl in dieser Funktion. Der Pastor übernahm die schlimmste Altlast des SED-Regimes, Millionen an personenbezogenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. Aus dem einstigen Ankläger Gauck wurde ein Aufklärer und Versöhner: Nicht um Rache ging es ihm, sondern um die Wahrheit, um das Recht der Opfer, den Tätern das Herrschaftswissen zu entziehen.
Als Bundespräsident dürfte Gauck ein unbequemer Mahner sein
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 2000 blieb die Freiheit Gaucks großes Thema. Als Publizist und Vortragsreisender, kurze Zeit auch als TV-Talkmaster, wirbt der „linke, liberale Konservative“ (Gauck über Gauck) unermüdlich für ein stärkeres politisches Engagement der Bürger, die sich einmischen und das Geschäft der Demokratie nicht alleine den Parteien überlassen sollten.
Den Vorwurf seiner Kritiker und Gegner, er sei einseitig und ausschließlich auf das Thema Freiheit festgelegt und spreche viel zu wenig über Gerechtigkeit oder Solidarität, die gegenwärtige Finanzkrise und die Zukunft Europas, weist der begnadete Redner, der am liebsten völlig frei und ohne Manuskript spricht, entschieden zurück. Erst die Freiheit mache aus Unterdrückten Bürger, aus der „Freiheit von etwas“ erwache die „Freiheit zu etwas – die Freiheit des Denkens, der Meinung, der Selbstverwirklichung nach unseren Möglichkeiten“. Das ist Joachim Gauck
Als Bundespräsident, das ahnen seine Förderer bei SPD und Grünen, aber auch bei Union und FDP, dürfte Gauck ein unbequemer Mahner sein, der sich wenig an irgendwelche Vorgaben hält und das sagt, was er für richtig hält – ob es anderen passt oder nicht. Gauck verteidigt die Marktwirtschaft, den Parteienstaat und den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, beklagt Ressentiments der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Zuwanderern, wirft aber auch bestimmten Milieus der Zuwanderer mangelnde Integrationsbereitschaft vor und begegnet der Occupy-Bewegung mit großer Skepsis, wofür er nun im Netz heftig kritisiert wird. Aber auch das stört Joachim Gauck nicht. Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. Wer wüsste dies besser als er.
Heiter und gelassen, aber auch ermutigend und fordernd – Joachim Gauck wird sich als „reisender Politiklehrer“ und „Demokratieerklärer“ auch im Amt des Staatsoberhauptes treu bleiben. Dass er es vom kleinen Sohn eines Kapitäns, der 50 Jahre lang in einer Diktatur lebte, zum ersten Bürger der Republik gebracht hat, ist für ihn ein Wunder. Aber irgendwie auch konsequent.
Wer mit dem Unerwarteten rechnet, kann schließlich nicht überrascht werden.
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