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Kommentar: Erdogan ist nicht die Türkei

Kommentar

Erdogan ist nicht die Türkei

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    Wichtig ist im Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine eindeutige Haltung seitens der Europäischen Union.
    Wichtig ist im Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine eindeutige Haltung seitens der Europäischen Union. Foto: Murat Cetinmuhurdar, dpa (Archiv)

    Wer mit Despoten Deals eingeht, muss aufpassen. In erster Linie auf sich selber. Die eigene Glaubwürdigkeit, sie ist an jedem Tag eines derartigen Deals Verhandlungssache. Die Europäische Union – maßgeblich geführt von Kanzlerin Angela Merkel – hat auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einen Deal mit der türkischen Regierung abgeschlossen.

    Der war hochgradig zynisch, aber auch höchst effektiv. Für die EU-Mitgliedstaaten, weil sich dramatisch weniger Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland wagten. Aber auch für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

    Denn was nicht in dem Abkommen stand, aber zwischen den Zeilen genau zu lesen war: Dieses Geschäft zu gegenseitigem Nutzen würde natürlich auch den Umgang mit ihm ändern – weil die EU kein Interesse an dessen Aufkündigung hat.

    Wann immer Erdogan also einen Putschversuch mit exzessiver Härte beantwortete, deutsche Journalisten einkerkerte, sich in den hiesigen Wahlkampf einmischte, in Syrien aggressiv gegen Kurden vorging, schwang in jeder Reaktion aus Berlin, aus Brüssel auch mit: Nicht so schön, aber unser Deal…

    Erdogan trifft Spitzenvertreter der EU

    Am Montagabend wird Erdogan Spitzenvertreter der EU treffen. Es geht unter anderem um weitere drei Milliarden Euro, die für das Flüchtlingsabkommen an Hilfsorganisationen in der Türkei fließen sollen – und auch fließen sollten.

    Aber bei diesem Treffen geht es um weit mehr, um besagte Glaubwürdigkeit. Es ist zutiefst menschlich (und selbst Spitzenpolitiker bleiben Menschen), in einer komplizierten Beziehung zu schwanken. Also in diesem Fall Erdogan für ein wenig freundlicher zu halten, als er den Journalisten Deniz Yücel freiließ, etwas weniger nett, wenn er mal wieder heimische Medienunternehmen einschüchterte. Ein bisschen kommoder, sobald er scheinbar unsere Anti-Terror-Strategie im Nahen Osten unterstützte. Weniger verträglich, wenn es ihm anscheinend eher um die Abrechnung mit den Kurden ging.

    Nur bringt solches Schwanken keine Standfestigkeit. Genau die müssen wir aber im Umgang mit Erdogan finden. Denn bei ihm handelt es sich nicht um einen völlig unberechenbaren, größenwahnsinnigen, ja kindischen Präsidenten, wie wir ihn gerade beinahe alltäglich in Washington erleben.

    Die EU muss bei Verhandlungen mit Erdogan glaubwürdig bleiben

    Er ist vielmehr in erster Linie ein kühler Machtpolitiker, der vor allem so viel Macht anhäufen will wie irgend möglich – und um die eigene große Schwäche durchaus weiß: dass nämlich viele türkische Bürger die Geduld mit seinen autokratischen Gebärden verlieren dürften, sollte der wirtschaftliche Aufschwung weiter stocken. Also ist Erdogan, bei allem Getöse, am empfänglichsten für kühle Argumente und Geschäfte. Diesen Pragmatismus hat er oft genug bewiesen: Den Journalisten Yücel wollte er niemals freilassen, wenig später kam dieser frei.

    Den Amerikanern drohte er wegen Kritik an seiner Außenpolitik mit einer "osmanischen Ohrfeige", um kurz darauf wieder mit US-Politikern zu verhandeln. Will Erdogan etwas von uns – Visa-Liberalisierung für seine Bürger oder ein Zollabkommen –, dürfen wir ihn nicht an Gnadenakten à la Yücel messen. Sondern an echtem Respekt für demokratische Verhältnisse.

    Die Türkei bleibt eines der geostrategisch wichtigsten Länder der Welt, ein Brückenkopf zwischen Europa und dem Nahen Osten. Der Traum einer muslimischen Demokratie mit Strahlkraft darf nicht an Recep Tayyip Erdogan zerplatzen. Dafür müssen wir ihm aber vor Augen führen, dass er ein Mann bleibt, mit dem wir (politisch und wirtschaftlich) im Geschäft bleiben wollen – doch nicht um jeden Preis. Vor allem muss die EU glaubwürdig bleiben.

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