Was die EU vom Schottland-Referendum lernen kann
Das Votum der Schotten für den Verbleib im Königreich war eine kluge Entscheidung. Dennoch kann die EU aus dem Fall Schottland einige Lehren ziehen. Ein Kommentar.
Die Schotten haben eine gute, eine kluge Entscheidung getroffen. Der Bruch mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien, unter dessen Dach die Schotten seit 307 Jahren leben, findet nicht statt. Die Mehrheit hat der Versuchung widerstanden, die alles in allem ja bewährte Union mit England gegen einen eigenen Staat einzutauschen.
Am Ende einer leidenschaftlichen, der Demokratie zur Ehre gereichenden Debatte war die Sorge um die ökonomischen Risiken einer Abspaltung stärker als die Sehnsucht, alleiniger Herr im eigenen Haus zu sein. Stärker auch als der nationale Stolz, den die separatistische Bewegung in den Dienst ihrer Kampagne gestellt hat – mit scharfen Attacken auf London und mit dem Versprechen, Schottland in ein soziales Paradies zu verwandeln.
Das historische Votum der Schotten erspart Großbritannien einen langen, kraftraubenden Streit um das Tafelsilber der Union. Niemand wusste ja, wie es hätte weitergehen sollen mit der Währung, den Banken, dem Nordseeöl oder den vor Schottland liegenden Atom-U-Booten. Die Entflechtung zweier eng verwobener Länder wäre zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang geworden, Großbritanniens Bedeutung in der Welt buchstäblich geschrumpft worden.
Ein zweiter Brandherd bleibt der EU erspart
Die von der Ukraine- und der Euro-Krise gebeutelte Europäische Union (EU) kann aufatmen. Erstens ist ein Austritt Großbritanniens aus der EU – diese Entscheidung steht 2017 an – nun unwahrscheinlicher geworden. Zweitens bleibt der EU ein weiterer schwerer Brandherd erspart. Eine Sezession der Schotten nämlich hätte den Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien, Flandern oder Norditalien mächtigen Auftrieb verschafft und wie ein Fanal gewirkt. So besehen gibt es nach dieser Volksabstimmung nur Gewinner: Großbritannien, die EU – und die Schotten selber, die jetzt – da steht London im Wort – auf noch mehr Befugnisse für ihr Regionalparlament zählen können.
Doch sollte niemand in Madrid, Brüssel oder Rom glauben, dass mit dem 18. September 2014 das Thema möglicher neuer staatlicher Grenzziehungen vom Tisch sei. Der Geist von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist aus der Flasche. Das gilt für Großbritannien, wo Engländer, Waliser und Nordiren nun ihrerseits ebenfalls auf mehr Autonomie dringen.
Das nationale Denken in der EU ist noch groß
Das gilt für die ganze EU, die am schottischen Beispiel studieren kann, wie stark das nationale Denken und Fühlen noch ist und wie groß der Wunsch nach Geborgenheit in kleineren, überschaubaren Einheiten. Mit neuen, zur Abschottung neigenden Staaten wäre Europa nicht gedient. Doch lehrt der Fall Schottland, dass die EU nicht zu zentralistisch werden darf und das föderale Element sowohl im Innern der Staaten als auch im Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedern zu kurz kommt.
Was ist Sache der EU, was Sache der Nationen und Regionen? Was ist zu tun, um den Völkern in einem vereinten Europa größtmögliche Selbstbestimmung zu ermöglichen? Das sind die Fragen, die nun – nach dem schottischen Drama – auf der Tagesordnung stehen. Wer einfach so weiterwursteln will wie bisher, gefährdet auf Dauer das Fundament der EU.
Im Übrigen hat Schottland gezeigt, wie sich der Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der ebenfalls vom Völkerrecht garantierten territorialen Integrität eines Landes friedlich und fair austragen lässt. Die Schotten konnten nach einer langen und offenen Diskussion frei entscheiden. Das macht den Unterschied zu der Referendums-Farce auf der Krim aus, die unter dem militärischen Druck Russlands inszeniert wurde und weniger mit „Selbstbestimmung“ als mit Landgewinn zu tun hatte.
Die Diskussion ist geschlossen.