Augsburg, Kongress am Park, Silvesternacht. Hunderte Menschen feiern gemeinsam mit Böllern und Raketen ins neue Jahr. Das Feuerwerk knallt aber nicht nur am Himmel. Eine Rakete trifft einen Feuerwehrmann, verletzt ihn am Hinterkopf und am Auge. Schnell ist klar: Sie wurde gezielt auf den Mann abgefeuert. Als Kollegen ihm helfen wollen, werden auch sie beschossen. Knapp einen Kilometer weiter nördlich ballern am Königsplatz einige Flüchtlinge in die Menge. Ein Polizist wird dabei verletzt. Es sind nur zwei von vielen Vorfällen in dieser Nacht.
Simon Burghardt kennt solche Nächte nur zu gut. Seit 15 Jahren arbeitet er bei der Polizei, seit 2014 koordiniert er als Außendienstleiter am Polizeipräsidium Schwaben Nord Einsätze. Seine blauen Augen blicken das Gegenüber aufmerksam an, seine Worte klingen ruhig, sachlich, abgeklärt. Doch wenn der Polizeihauptkommissar über die Probleme spricht, über den nachlassenden Respekt, über die Tatsache, dass seine Kollegen immer wieder belästigt, beleidigt und bedroht werden, spürt man neben der Sorge auch die Ratlosigkeit.
Woher das alles rührt? Gerade wenn die Polizisten nachts zu Vorfällen kommen, gebe es immer wieder Probleme. „Zu der Zeit spielen natürlich Alkohol und Drogen eine große Rolle“, sagt Burghardt. Die Uniform scheine manchmal mehr zu provozieren, als dass sie den Beamten Respekt verschafft. Manchmal helfe es nur, jemanden in Gewahrsam zu nehmen, sagt er.
Aber dass Feuerwehrleute attackiert, Polizisten angepöbelt, Rettungskräfte beleidigt werden, das ist es ja nicht allein. Dass, so scheint es, der Respekt gerade gegenüber jenen schwindet, die ihn doch am meisten verdienen – weil sie ihren Dienst für den Staat und damit für die Allgemeinheit tun. Nein, das Problem liegt noch tiefer.
Warum? Weil man doch längst an der Ampel angehupt wird, wenn man ein paar Sekunden zu spät losfährt. Weil es immer wieder vorkommt, dass sich jemand an der Kasse im Supermarkt vordrängelt, ohne zu fragen. Weil es passieren kann, dass man auf eine höfliche Frage gar keine Antwort mehr bekommt. Warum aber ist das so? Wird unsere Gesellschaft immer unnachgiebiger, rücksichtsloser, ich-bezogener? Kann es sogar sein, dass Respektlosigkeit inzwischen Alltag geworden ist?
Simon Burghardt empfindet es schon als respektlos, wenn ihn jemand einfach so duzt. Egal ob privat oder im Dienst. Der 35-Jährige sagt, der nachlassende Respekt sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es begegne ihm bei feiernden Studenten auf der Straße ebenso wie bei älteren Menschen oder auch im Flüchtlingsheim.
Sind Migranten respektloser?
Ob Menschen mit Migrationshintergrund respektloser oder gar gewalttätiger sind? Burghardts Kollege Michael Jakob will dazu keine Einschätzung abgeben. Er sagt: „Über nachlassenden Respekt haben wir uns schon beschwert, lange bevor die große Flüchtlingswelle kam.“ Die Statistik listet 2015 rund 700 Fälle von Gewalt gegen Polizisten im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Nord auf. 135 Tatverdächtige hatten keinen deutschen Pass. Bayernweit waren es knapp 15000 Fälle, in denen Polizisten attackiert oder beleidigt wurden – so viele wie nie in den letzten fünf Jahren.
Nachdenklicher aber stimmt Jakob eine andere Entwicklung: „Für mich ist es schwer, zu verstehen, warum sich etwa ein Sanitäter, der jemandem helfen will, beschimpfen lassen muss.“
Memmingen, Sommer 2016. Zwei Sanitäter des Roten Kreuzes werden zu einem Verletzten gerufen. Vor Ort gibt es Entwarnung. Der Mann muss nicht ins Krankenhaus. Einer, der in der Nähe steht, sieht das anders. Er beginnt, die Sanitäter zu beschimpfen. Dann schlägt er seinem Gegenüber unvermittelt ins Gesicht. Der Rotkreuzler verliert einen Zahn.
Auch Andreas David wurde im Einsatz schon tätlich angegriffen. Dennoch seien solche Fälle im Unterallgäu die Ausnahme, sagt der Rettungsdienstleiter des dortigen BRK-Kreisverbandes. Böse Worte bekomme er dagegen öfter zu hören. „Es gibt, glaube ich, kein Schimpfwort, das man zu mir noch nicht gesagt hat.“ David – Jeans, weißes Hemd, kurze Haare – wirkt nicht wie einer, der sich leicht provozieren lässt.
Ruhig zu bleiben, sei das Wichtigste in solchen Situationen. Das ist nicht immer einfach, vor allem, weil es oft Kleinigkeiten sind, wegen der die Einsatzkräfte angemacht werden. Zum Beispiel, wenn sie Autofahrern im Weg sind. „Wenn wir zu einem Einsatz fahren, haben wir halt keine Zeit, einen Parkplatz zu suchen“, sagt David.
Wie nur konnte es so weit kommen, dass Sanitäter angegangen werden – nur, weil sie ihre Arbeit tun? Für den Berliner Psychologen Tilmann Eckloff sind das Begleiterscheinungen eines großen gesellschaftlichen Wandels. Hierarchie zähle immer weniger. Wer wo steht, handelten die Menschen stattdessen immer neu aus. „In Schulen oder Unternehmen können flache Hierarchien von Vorteil sein“, sagt der Wissenschaftler der Business School Berlin. Gleichzeitig bedeute das aber auch, dass jeder um seine Position in der Gesellschaft kämpfen müsse. Der Ton werde rauer, die Menschen schauten mehr auf sich selbst.
Miteinander zu reden ist die beste Methode, um auszukommen
Eckloff, der seit 14 Jahren den zwischenmenschlichen Respekt erforscht, denkt, dass in der modernen Gesellschaft auch die Ansprüche des Einzelnen gestiegen sind. Da werde ein Sanitäter, der helfen will, schnell wie ein Dienstleister behandelt. Eckloffs Rezept dagegen: Bildung und Kommunikation. Miteinander zu reden, sei immer noch die beste Methode, um auszukommen. Doch mancher hat gar kein Interesse an einem Gespräch.
Ulm, Frühjahr 2015. Ein Unbekannter betritt das Jobcenter. Er geht wortlos in das Büro einer 38-Jährigen und schlägt ihr zwei Mal mit der Faust mitten ins Gesicht. Kollegen eilen ihr zu Hilfe. Der Täter verschwindet. Wer er war, ist bis heute nicht geklärt. Die Mitarbeiterin muss ins Krankenhaus, sie kann ihre Arbeit nicht mehr ausüben.
Seit dem Vorfall ist im Jobcenter Ulm den ganzen Tag über ein Sicherheitsdienst im Einsatz. Einen gewalttätigen Angriff habe es seither nicht mehr gegeben, sagt Geschäftsführerin Monika Keil. Respektlosigkeit gehöre aber zum Arbeitsalltag. „Das fängt bei unentschuldigtem Fehlen bei Terminen an, das passiert etwa bei jedem dritten Termin.“
Immer wieder kommt es auch zu Beschimpfungen. Die Mitarbeiter seien da einiges gewohnt. „Wenn wir jeden Vorfall anzeigen würden, würden wir nichts anderes mehr machen“, sagt Keil.
Auch Vorurteile, geschürt durch das Internet und zum Teil auch von Medien, erschwerten die Arbeit. „Alles, was das Jobcenter macht, wird in Zweifel gezogen“, sagt Keil. Selbst, wenn es darum geht, behördliche Entscheidungen zu akzeptieren. Auch in anderen Ämtern kennt man die Problematik. In einem Augsburger Jobcenter drohte ein mehrfach vorbestrafter Mann im Juni, das Gebäude in die Luft zu sprengen. In Günzburg hat die Stadtverwaltung bereits mehrfach Bürger wegen Beleidigung angezeigt.
Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln: So verhalten Sie sich richtig:
Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.
Ich fordere Andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf
Ich beobachte genau, präge mir Tätermerkmale ein.
Ich organisiere Hilfe unter Notruf 110. Oft gibt es an Bahnhöfen eine Notrufsäule.
Ich kümmere mich um Opfer
Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung.
Beamte, Polizisten und Rettungskräfte hätten eigentlich besonderen Respekt verdient, findet der Kommunikationswissenschaftler Joachim Knape. „Sie verrichten schließlich hoheitliche Aufgaben in unser aller Interesse.“ Den Grund für Aggressionen sieht der Professor der Universität Tübingen in einem ungleichen Machtverhältnis, in dem Bürger und Vertreter der „Obrigkeit“ stünden. Diese Aggressionen nicht auszuleben, müsse geübt werden. „Respekt lerne ich am besten in der Familie. Die Eltern müssen das auch thematisieren.“
In Zeiten, in denen junge Menschen immer weniger miteinander sprechen, sondern sich zunehmend über digitale Medien austauschen, sei das umso wichtiger. Die sozialen Netzwerke tragen Knape zufolge dazu bei, dass der Umgang rauer wird – und damit auch der Respekt schwindet. „In sozialen Netzwerken findet der Kontrollverlust für manche Menschen schneller statt.“ Wie das, was sie sagen, beim anderen ankommt, werde dann unwichtig. Die beste Devise laute in jedem Fall: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Doch was nützt das, wenn sich immer weniger Menschen daran halten? Wenn schon das Bewusstsein dafür fehlt, was sich gehört?
Mehr Aggressionen gegenüber Zugbegleitern
Bobingen, Herbst 2016. Ein Regionalzug fährt in den Bahnhof ein. Kaum hält er an, springt ein dunkelhäutiger Mann auf den Bahnsteig. Die Zugbegleiterin will ihm hinterher. Doch der Mann taucht ins Gleisbett ab, klettert am gegenüberliegenden Bahnsteig wieder hoch und rennt davon. Zuvor hatte er sich lautstark mit der Zugbegleiterin gestritten und gerangelt, weil er keine Fahrkarte hatte.
Der Vorfall geht Sonja Lutz nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder liegt die Frau, die seit 25 Jahren bei der Bahn arbeitet, nachts wach und denkt über solche Ereignisse nach. „Die Aggressionen werden mehr, die Beleidigungen schlimmer.“
Lutz ist eine zierliche Frau, sie spricht mit leiser Stimme. Nachts, sagt die 50-Jährige, kontrolliere sie den hinteren Zugteil oft mit einem mulmigen Gefühl. Die Bahn biete zwar bestimmte Trainings für solche Situationen an, statte ihre Mitarbeiter sogar mit Alarmgeräten aus. „Aber auf dem Zug sind wir trotzdem allein und müssen entscheiden, was wir tun.“
Manchmal handelt die Frau aus Pöttmes im Kreis Aichach-Friedberg dann auch gegen die Vorschriften. Die besagen, dass, wer ohne Fahrschein erwischt wird, mindestens 60 Euro Strafe zahlen muss. Um Konflikte zu vermeiden, lässt Lutz den Fahrgast immer öfter nachträglich ein Ticket lösen. Die Bahn stehe im Zweifelsfall hinter ihren Mitarbeitern, sagt sie.
Das schlechte Image der Bahn, verärgerte Kunden, die ihre Wut an den Mitarbeitern auslassen – all das macht Sonja Lutz zu schaffen. Manchmal denkt sie darüber nach, ihren Beruf zu wechseln. Denn eigentlich wünscht sie sich nur das, was jeder andere auch möchte – respektiert werden.
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