Die neuen Grenzkonflikte
Migration und Klima, Nationalismus und Demokratie, Individualismus und Datenkapitalismus – in allen richtungsweisenden Fragen der Gegenwart geht es darum: Wo endet die Freiheit? Und wo beginnt die Verantwortung?
Es wirkte fast wie ein Gruß aus dem vergangenen Jahrhundert, als Wladimir Putin kürzlich feierlich einen ersten Zug aus Russland direkt auf die Krim schickte. Die Ukraine wie die EU empörten sich über die Grenzverletzung – tatsächlich ging es hier ja um die Markierung territorialer Ansprüche. Es ist kein Zufall, dass gerade im langsam Gestalt annehmenden 21. Jahrhundert auch solche Konflikte wieder Konjunktur haben: Für betont national regierende Politiker, dazu gehören auch Erdogan und Trump, sind Grenzfragen existenziell – weshalb der eine die Bedeutung in der Erweiterung der territorialen Einflusssphären sucht und der andere die Größe im Bau einer souveränen Festung untermauert. Und so sind auch die Entscheidungen des Brexits in Großbritannien gegen Europa sowie Chinas Beschluss für ein eigenständiges Internet nichts anderes als Grenzkonflikte in neuem Gewand. Praktisch alle Zukunftsfragen sind Grenzfragen.
Das betrifft ganz klassisch eben Territorien – auch: Wie sollen die Grenzen der EU gestaltet werden? Direkt gegen die Migrationsströme, die nicht zuletzt durch Klimaveränderungen verstärkt werden; indirekt durch Auslagerungen etwa ins Innere Afrikas, wo das Kontrollieren und Stoppen von Fluchtbewegungen bereits mit freundlicher technischer Unterstützung aufgerüstet werden. Und das, da doch zumindest ein Teil der Verantwortung für die Fluchtursachen in historischen und wirtschaftlichen Gebaren der Zielländer liegen. Das Verfügen über Grenzen bedeutet Macht.
Wie können Manipulationenbei Wahlen ausgeschlossen werden?
Das betrifft aber auch den vermeintlich grenzenlosen Raum der digitalisierten Welt. Und zwar in mindestens drei Dimensionen: 1. Wer begrenzt den Zugriff von Unternehmen und Staaten auf die persönlichen Daten der Menschen? 2. Wie können manipulative Einflussnahmen von außen etwa auf Wahlen ausgeschlossen werden, wenn ja schon Barack Obama warnte, dass genau hier der größte Schwachpunkt der Demokratien im digitalen Zeitalter liegen werden? 3. Müssen die zunehmenden Monopolisierungen in der Digitalwirtschaft nicht begrenzt werden, weil doch die Auswirkungen von Robotik und Künstlicher Intelligenz für die Gesellschaften global eine Herausforderung darstellen? Der im digitalisierten Hochgeschwindigkeitshandel florierende Markt kennt keine Grenzen.
Und schließlich zeichnen sich die Grenzkonflikte ja auch im Inneren von Gesellschaften ab, etwa in Deutschland: Soll der in der Spitze steigende Wohlstand zugunsten des sozialen Friedens reguliert werden? Wie ist die demokratische Meinungsfreiheit zu schützen, auch wenn sich dadurch Feinde der Demokratie organisieren? Inwiefern darf die Konsumfreiheit des Einzelnen beschränkt werden, wenn es dem Wohl der Gemeinschaft dient – in Verpackungs- und Tempolimitfragen mitunter erweitert auf die Verantwortung für das Wohl der ganzen Welt? Grenzen in der Gegenwart können ja eine zukünftige Freiheit bewahren.
Bringt die digitale Erfassungeine neue Apartheit hervor?
Diese heute bereits virulenten Fragen werden sich mit zunehmendem technischen Fortschritte weiter verschärften. So warnt der afrikanische Philosoph Achille Mbembe bereits, dass mit der digitalen Erfassung der Menschen eine neue Apartheid geschaffen werden könne, die nicht nur Menschen beim Übertritt in andere Länder automatisch kategorisiere – sondern auch innerhalb von Gesellschaften die Teilhabe am öffentlichen Leben reguliere, wie es bereits das soziale Punktesystem in China zeige. In Europa könnte das sogar freiwillig passieren, weil sich heute bereits erste Arbeitnehmer (etwa bei Tui in Schweden) chippen lassen, um interne Firmen-Zugänge zu erleichtern. Womöglich werden bald auch Versicherten Vergünstigungen angeboten, wenn sie in ein vergleichbares Prüf-Implantat einwilligen – bevor dann die, die es nicht tun, mit Erschwernissen und Sanktionen rechnen müssen.
Die heutigen Grenzkonflikte stellen umfassend die Frage, in welcher Welt wir künftig leben wollen. Die einzelnen Fragen werden dabei schnell so groß, dass die Reaktionen darauf schnell nur noch Hysterie oder Agonie kennen. In der Hysterie droht immer gleich der Untergang von Menschheit, Nation und Freiheit – man fordert totale Lösungen. In der Agonie klebt man verzagt ein Pflästerchen auf eine Wunde, die operiert werden muss. Und nicht selten ist, dass einer im einen Fall Hysteriker ist (Nation), im anderen Fall aber Agonist (Klima) – und andersrum. Letztlich bedeutet beides jedoch eine Kapitulation vor dem kulturellen Wandel, der gestaltet werden muss. Und zwar in der Kenntnis, dass, wer von Freiheit spricht, auch immer von Verantwortung sprechen muss.
Wohlstand muss in die Verantwortung genommen werden
Die neuen Grenzkonflikte stellen also ausnahmslos moralische Fragen an uns. Sie sind weder mit dem einfachen Schließen von Grenzen beantwortet, auch wenn das Bewahrung und Schutz verspricht, noch mit dem einfachen Öffnen von Grenzen, auch wenn der Traum von einer Welt ohne sie von einer Zuversicht auf ein gemeinsames Meistern spricht und dazu noch die historische Künstlichkeit aller Identitäten auf seiner Seite hätte.
Wir müssen in die Grauzonen, wenn Politik nicht hysterisch werden oder in Agonie verfallen soll beim Lösen all der heute bereits zu lange verdrängten Menschheitsaufgaben. Die digitale Welt braucht mehr Regulierung. Der Nationalstaat kann weder abgeschafft noch Heilmittel werden. Wohlstand darf nicht bestraft werden, muss aber auch in die Verantwortung genommen werden – innerhalb der Grenzen und über sie hinweg. Klimaschädlicher Konsum braucht die Einhegung durch bürgerliche Vernunft.
Ob das alles gelingen kann? Wir werden es wohl lernen müssen, wenn sich die Konflikte nicht weiter verschärfen sollen – und wir nicht dann, irgendwann, merken wollen, dass wir den Punkt verpasst haben, die nötigen Grenzen für ein gutes Leben zu ziehen. Von den klassischen Grenzkonflikten jedenfalls ist zu lernen, dass, wer auf die Macht des Stärkeren setzt, besser etwas zu spüren bekommen sollte, was es heute, in einer multipolaren und vor globalen Herausforderungen stehenden Welt, vielleicht gibt wie nie zuvor: Die noch größere Macht der vielen anderen – die sich hoffentlich mitverantwortlich fühlen. Wenn sich aber die Stärksten in ihren bloßen Eigeninteressen arrangieren, könnten wir im Lauf des Jahrhunderts doch noch zurecht über Untergangsszenarien sprechen.
Womöglich wird über die Gestalt unserer Zukunft die Antwort auf eine uralte Frage entscheiden: Ist der Mensch ein kooperatives Wesen oder eines der Konkurrenz. Aber womöglich gibt es auch hier kein bloßes Entweder-oder. Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt: „Wenn jeder jeden darin hindern könnte, all die Verrücktheiten zu begehen, die man sich vorgenommen hat, dann wäre ein Zustand erreicht, den man die geglückte Zivilisation nennen könnte.“
Zum Weiterlesen - Onora O’Neill: Gerechtigkeit über Grenzen, Claudius, 336 S., 38 ¤
- Paul Scheffer: Wozu Grenzen? Hanser, 240 S., 22 ¤
- Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Übs. Michael Bischoff, Hanser, 336 S., 24 ¤
- Jan Heidtmann: Internet abschalten. SZ, 72 Seiten, 9,90 ¤
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