Zwölf Jahre Benjamin Netanjahu: So hat der "Zauberer" Israel geprägt
Benjamin Netanjahus politische Karriere geht dem Ende entgegen. Seine Bilanz ist durchzogen von diplomatischen Erfolgen und einer starken Polarisierung der Gesellschaft.
Keiner war in Israel länger Premierminister als Benjamin Netanjahu. Er hat das Gesicht der Nation stärker geprägt als andere vor ihm. Ein „Zauberer“ sei er, heißt es – weil er sich zwölf Jahre ununterbrochen an der Macht halten konnte. Nicht einmal die drei Korruptionsfälle, in die er laut Anklageschrift verwickelt sein soll und derentwegen er vor Gericht steht, haben seine Macht geschmälert. Die Corona-Krise hat Israel zwar mit einer frühen Impfaktion als eines der ersten Länder gemeistert, was Netanjahus Erfolg ist. Trotz dieser Leistung ist es ihm aber nicht gelungen, die jüngsten Wahlen eindeutig zu seinen Gunsten zu entscheiden. Eine Bilanz seiner Amtszeit.
1. Gerissener Politiker, treuloser Freund: Lange gab es in Israel einen regelrechten Personenkult um Netanjahu. Der britisch-israelische Journalist Anshel Pfeffer, der eine Biografie Netanjahus geschrieben hat, sagt: „Es ist Netanjahu über Jahre immer wieder gelungen, die Wut großer Teile der israelischen Bevölkerung auf die ‚alten Eliten‘ für seine eigenen politischen Ziele zu nutzen.“ Doch er mag ein Zauberer sein, doch wenn Bibi, wie er genannt wird, in den nächsten Tagen kein Kaninchen aus dem Hut zaubert, muss er das Büro des Regierungschefs räumen, weil er über sich selbst gestolpert ist.
Zu Fall gebracht haben ihn dann ehemalige Verbündete, Weggefährten und Freunde, die sich von ihm distanziert haben, weil er sie gedemütigt, kaltgestellt oder nicht eingehalten hat, was er ihnen versprochen hatte. So hintertrieb Netanjahu das Rotationsabkommen mit Benny Gantz, wonach er sich das Amt des Regierungschefs mit ihm hätte teilen sollen. Seine Fans bezeichnen dies zwar als „hohe Kunst der Politik“, seine Gegner kritisierten es hingegen als üble Tricks zur Machterhaltung und als „Verrat an Freunden“. Hätte Netanjahu seine politischen Alliierten von einst nicht vor den Kopf gestoßen: durchaus möglich, dass er jetzt eine weitere Amtsperiode antreten könnte.
Benjamin Netanjahu hat Israel aufgerüstet
2. Sicherheit für sein Land: Israel ist heute besser gerüstet als noch im Jahr 2009, um auf die zahlreichen Sicherheitsherausforderungen zu antworten. Attacken, die von Terroristen geplant werden, werden oft frühzeitig erkannt und verhindert. Vor Raketenangriffen der Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen oder der Hisbollah aus dem Libanon schützt das Abwehrsystem „Iron Dome“, das im jüngsten Gazakrieg neun von zehn Geschossen abgefangen und in der Luft zerstört hat. Die „eiserne Kuppel“ wurde zwar schon vor Netanjahu entwickelt; aber er sorgte dafür, dass sie ins System der Verteidigungskräfte integriert wurde.
Auch die Luftwaffe ist auf dem neuesten Stand. Kampfjets vom Typ F-35, die Israel 2016 beschaffte, wurden elektronisch so weit aufgerüstet, dass sie den qualitativ besseren F-22-Jets entsprechen, die das Pentagon nicht nach Israel liefern wollte (aus Angst, dass die geheimen Avioniksysteme bei einem Absturz auf feindlichem Gebiet landen könnten). Die Geheimdienste haben ebenfalls aufgerüstet: Von Gaza über Syrien und den Irak bis in den Iran haben sie Augen und Ohren.
3. Sein Umgang mit dem Iran: Der Iran, Israels Erzfeind, wisse, dass Israel unzerstörbar ist, sagt der ehemalige Mossadchef Efraim Halevy. Wie erfolgreich Netanjahus Politik zur Verhinderung der iranischen Atombombe war, lässt sich derzeit allerdings nicht abschätzen. Sicher ist bloß, dass Teheran innerhalb von wenigen Monaten genug waffenfähiges Uran produzieren kann, um eine Atombombe zu bauen. Auf einen spektakulären Angriff auf iranische Nuklearanlagen hat Netanjahu zwar verzichtet. Aber fast schon routinemäßig führt der Mossad, der dem Regierungschef unterstellt ist, im Iran Geheimdienstaktionen aus, mit denen der Zeitpunkt verzögert werden soll, zu dem der Iran eine Nuklearmacht ist.
Netanjahu war gegen eine Zwei-Staaten-Lösung
4. Er hat die Palästinenser geschwächt: Netanjahu setzt lieber auf kleine Aktionen statt auf aufsehenerregende militärische Operationen. Er scheut Risiken. Das zeigt sich nicht nur an seiner Iran-Politik, sondern auch an seiner Karriere. Stets kalkuliert er vorsichtig, bevor er einen nächsten Schritt unternimmt, und meistens zieht er den Ist-Zustand einer unsicheren Zukunft vor. Dadurch hat sich ein Zustand der Lähmung über das Land gelegt. Das betrifft auch den Umgang mit den Palästinensern. Er fror den Konflikt förmlich ein.
Kurz nach seinem Amtsantritt hatte er in einer Grundsatzrede zum Friedensprozess von einem „demilitarisierten palästinensischen Staat“ an der Seite Israels gesprochen. Doch schon wenig später distanzierte er sich von diesem Plan. Einen Dialog mit den Palästinensern gab es nicht, auch weil das Netanjahus Wähler ablehnten und er einmal mehr nicht bereit ist, Risiken einzugehen. Eine Zweistaatenlösung sollte es mit ihm nicht geben – eine Haltung, die dazu geführt hat, dass selbst internationale Bemühungen weitgehend eingestellt wurden. Der fortschreitende Bau von Siedlungen im Westjordanland hat die Pläne ohnehin fast unmöglich gemacht.
5. Die Kunst der Diplomatie: Netanjahu hat die Integration Israels im globalen diplomatischen Netzwerk vorangetrieben. Ob China, Indien, Japan, Osteuropa, Afrika oder Russland: Er hat Israels Diplomaten und Geschäftsleuten die Tür geöffnet. Zum Zustandekommen des größten diplomatischen Coups hat Netanjahu indes nicht viel beigetragen. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat dafür gesorgt, dass vier arabische Staaten ihre Beziehungen zu Israel normalisieren: Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko und der Sudan. Damit wurden im Mittleren Osten seit Jahrzehnten verkrustete Fronten aufgebrochen. Die Abkommen sind implizit auch ein Verteidigungspakt gegen den Iran und dessen schiitischen Statthalter. Er richtet sich gegen alle, die sich vom Iran und dessen Trabanten im Libanon, in Syrien, im Irak, im Gazastreifen oder im Jemen bedroht fühlen. Die neue Koalition speist sich also weniger aus einem neuen Verständnis füreinander, sondern in gemeinsamen Feindbildern.
Die soziale Schere in Israel ist weit gespreizt
6. Wirtschaftspolitik mit zwei Gesichtern: Unter Netanjahu wurde die Wirtschaftspolitik liberaler, manche würden sagen: zu liberal. Die Öffnung der einst sozialistischen israelischen Wirtschaft hatte Benjamin Netanjahu bereits zu Beginn der 2000er Jahre als Finanzminister im Kabinett von Ariel Scharon vorangetrieben. Seither ist einerseits die Ungleichheit im Land gestiegen; sie ist höher als in den meisten entwickelten OECD-Ländern. Jeder fünfte Israeli in Armut. Bei Kindern liegt die Armutsquote sogar bei fast 30 Prozent. Damit ist Israel eines der beiden Länder mit der höchsten Kinderarmut in der OECD. Zudem sind die Lebenshaltungskosten hoch. Gleichzeitig stieg das israelische Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosigkeit fiel auf ein Niveau, das den Vergleich mit anderen OECD-Ländern nicht zu scheuen braucht. Netanjahu, der sich als CEO der Start-up-Nation versteht, hat Exportkanäle für Hightech-Innovationen geöffnet und ausländische Investoren ermuntert, in Israels florierendes „Silicon Wadi“ zu investieren. Heute gehört Israel zu den weltweit führenden Tech-Nationen.
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