Eine Kindheit an der Autobahn
Die A8 kommt voran. Der Abschnitt Augsburg - München ist jetzt sechsspurig, in Richtung Ulm soll bald gebaut werden. Max Trometer hat als Bub viel Zeit dort verbracht. Und Papa hat ihn gefilmt. Von Andreas Frei
Dort an der Böschung, gleich neben dem hellen Busch, war einer der Lieblingsplätze des kleinen Max. Keine zehn Meter entfernt sind die Lastwagen vorbeigekrochen. Wenn viel Verkehr ist, und das ist oft der Fall, kriechen sie noch immer. Der Zusmarshauser Berg ist kein Ort für große Geschwindigkeiten.
"Ach", sagt Max jetzt, "da hat sich ja gar nichts verändert." Max Trometer ist heute 64, ein umtriebiger Mann, redselig, reisefreudig und offen für alles Neue. Aber genauso gerne schwelgt er in Nostalgie. Der große Max will wissen, ob auch im Jahr 2010 noch das funktioniert, was 1955 dem kleinen Max ein Lachen ins Gesicht gezaubert hat. Also führt er seinen Besucher auf die Brücke an der Auffahrt zur Autobahn A 8, winkt hinunter, als sich ein Sattelschlepper nähert, und sagt herausfordernd: "Wir waren tödlich beleidigt, wenn man nicht zurückgewinkt hat."
Dieser Fahrer winkt, und der große Max ist zufrieden.
Für einen solchen eher kindlichen Blick auf eine Autobahn haben Straßenplaner vermutlich wenig übrig. Erst recht nicht, wenn es um eine der meistbefahrenen Fernrouten des Landes geht. Die Bezugsgrößen heißen hier Verkehrsbelastung, Warenströme oder Umleitungsstrecken. Etwa 52 000 Fahrzeuge rauschen jeden Tag an Zusmarshausen im Kreis Augsburg vorbei. In zehn Jahren, so die Prognose, sollen es rund 66 000 sein. Jedes fünfte Fahrzeug ist dann ein Lastwagen.
Immer wieder war vom Ausbau der A 8 auf der Strecke Ulm - München die Rede. Immer scheiterte es am Geld. Bis man auf die Idee kam, einen privaten Bauträger in Vorleistung gehen zu lassen. In dem Fall ist es ein Zusammenschluss gleich mehrerer Unternehmen, die dann von den Einnahmen aus der Lkw-Maut profitieren.
Nur so war es möglich, dass der sechsspurige Ausbau zwischen Augsburg und München in gerade einmal 44 Monaten erfolgte und am kommenden Donnerstag abgeschlossen sein wird. Pünktlich, wie es bei den Verantwortlichen stolz heißt. Nach gleichem Muster will man sich ab 2011 an den letzten veralteten Abschnitt zwischen Günzburg und Augsburg machen.
Dann ist auch Zusmarshausen dran. Es soll einen Lärmschutzwall geben, verspricht die Autobahndirektion Südbayern, natürlich sechs Spuren und den obligatorischen Standstreifen sowieso. Dann heißt es noch: "Die neue Fahrbahnachse rückt um bis zu 40 Meter nach Norden", was man sich im Moment noch schwer vorstellen kann, als Laie ohnehin. Und Max Trometer hofft inständig, dass die ganz Vorsichtigen unter den Autofahrern "nicht ständig die Mittelspur blockieren", wenn der Verkehr auf drei Spuren in jede Fahrtrichtung rollen wird. Von 2014 ist die Rede. Dieses Stückchen Autobahn ist seit dem Bau im Wesentlichen unverändert geblieben. 1937/38 war das. Damals hatten sie zur Eröffnung ein Spruchband an einer Brücke befestigt ("Zusmarshausen grüßt das Werk des Führers"), und die Fotos machte ein Mann namens Trometer. Auch er hieß Max mit Vornamen; der Vater des kleinen Max.
Er war ein angesehener Friseurmeister und begeisterter Dokumentarfilmer. Kaum war was im Kasten, wurde es schon archiviert, mit Texten versehen und katalogisiert. Erst hat er nur fotografiert. Später, von den fünfziger Jahren an, hielt Trometer das Leben in der Gemeinde und in der Familie auch in bewegten Bildern fest. Natürlich gehörte die nahe Autobahn zu den gerne verwendeten Motiven.
Max Trometer senior ist 1998 gestorben. Was von seiner Leidenschaft geblieben ist, stapelt sich heute in einem Einfamilienhaus am Ortsrand von Zusmarshausen. Hier wohnt Max, sein Sohn. Mit großen Gesten und bereitstehenden Hausschlappen hat er den Gast empfangen. Er trägt ein grau kariertes Hemd, die Haare sind akkurat gescheitelt. Im Wohnzimmer liegen zwei Fotoalben bereit, in der Ecke steht ein Röhrenfernseher und an der Terrassentür ein nicht mehr taufrisches Trimmrad. Zur Begrüßung kocht der Gastgeber Espresso, seine Frau bereitet Weißwürste vor.
Irgendwann sagt Max Trometer: "Gehen wir in den Keller." Hier lagern also die Filmschätze des Vaters. Alles hat seinen Platz, ist durchnummeriert und beschriftet. Die Handschrift des Papas.
Max Trometer öffnet einen alten, schweren Wohnzimmerschrank, der seine Zwecke nun in einem großzügigen Abstellraum erfüllt. Er zieht ein DIN A4 großes Buch heraus und schlägt es auf. Nichts als Tabellen, Seite für Seite, in der linken Spalte die laufende Nummer, dann Beschreibungen wie "Faschingsumzüge 1954 - 1961" oder "Mit Mäxi und Mutti im Augsburger Tierpark, 1956", und ganz rechts das Filmformat: bis 1971 Normal 8, danach Super 8. Das ist der Wegweiser zum Filmarchiv im Hause Trometer.
Der eigentliche Schatz lagert in einem Holzregal im Flur des Kellers. Es sind ziemlich genau 150 Filmspulen. Irgendwo schlummert das Band mit dem Besuch von Franz Josef Strauß in Zusmarshausen, "völlig unterbelichtet und unscharf", wie das nur passieren konnte, fragt sich Trometer laut.
Die A-8-Aufnahmen sind auch darunter. Sie stammen aus den Jahren 1955 und 1956. Max junior war da etwa zehn Jahre alt. Ein Bub, der schon damals von allem fasziniert war, was einen Motor hatte. Das fing im Babybett an: "Mein erstes Wort war Mama, dann kam Auto und dann Papa." Es ging beim Traktor weiter, der auf dem Nachbarhof stand, und beim Postbus, der vor der Tür wegfuhr. Und das musste zwangsläufig bei all den Mercedes, Borgwards und MANs enden, die wenige Hundert Meter weiter in die Welt hinausrollten.
Und wenn die große weite Welt lockte, dann zog es ihn hinaus zur Autobahn, den kleinen Max. Mal war Mutti dabei, häufiger der Vater. Und der dann mit Foto- und Filmkamera. Natürlich führte er Regie. Mäxi samt Fahrrad auf der Brücke, Mäxi an der Böschung neben friedlich grasenden Kühen, Mäxi tollkühn am Fahrbahnrand. Alles gehörte dokumentiert.
Dann die Tage ohne elterliche Kontrolle. Nur er und seine drei Freunde. Da saßen sie dann oft stundenlang, haben nur geschaut oder sich Spiele einfallen lassen. Autos zählen beispielsweise, sortiert nach Typen, Farben, Nummernschildern oder was auch immer. Und die Zeit schlich so dahin. Trometer schüttelt den Kopf. "Wenn Sie das heute machen, mein lieber Gott, da kriegen Sie ja einen Augen-Tinnitus."
Damals, in den 50er Jahren, konnte es passieren, dass eine Viertelstunde lang gar kein Fahrzeug kam. Oder man sah plötzlich ein Pferdegespann auf der rechten Spur, "ohne dass gleich der Staatsanwalt auf der Matte stand". Einmal hat er, drüben am Fallrieder Berg, einen Lastwagen gleich mit zwei Anhängern beobachtet. Der Lkw kam den Berg nicht hoch. Also fuhr er auf den nahe gelegenen Parkplatz, auch so ein Lieblingsort des kleinen Max, koppelte einen der beiden Hänger ab, zog dann den anderen nach oben, wendete auf dem Mittelstreifen, der damals noch begrünt war, und holte den zweiten Anhänger ab. "Aus heutiger Sicht ein irres Manöver", sagt Trometer.
Jetzt steht er auf der Autobahnbrücke und sieht den PS-Ungeheuern dieser Zeit hinterher. "Iiiiiiiummmmm", macht es bei jedem Fahrzeug. Dann sagt Trometer: "Hier habe ich mir den Appetit fürs Fernfahrerleben geholt." Bis zu seiner Pensionierung war er Lehrer, zuletzt Konrektor an der Grund- und Hauptschule im Ort. Gleichzeitig aber ist er 40 Jahre lang Lkw gefahren, immer wieder am Wochenende nach Innsbruck, im Auftrag eines großen Backwaren-Herstellers. "Das war mein Ausgleich. Ein wunderbarer Ausgleich."
Das Hobby ist geblieben. Heute fährt er hin und wieder ehrenamtlich für das evangelische Jugendwerk. Auf seinem Computer führt er eine Excel-Tabelle mit den Namen italienischer Speditionen, "ich kenne fast alle". Eine Tabelle - wie einst sein Vater.
Von ihm hat er auch die Liebe zur Fotografie geerbt. Seine erste Kamera war eine Kodak. Es gab eine Zeit, da besaßen Vater und Sohn zusammengenommen an die 400 Kameras. Einige wenige sind in der Familie geblieben. Die erste Dunkelkammer hat der kleine Max im Internat in Lauingen von innen gesehen. Später, als der große Max selbst Lehrer war, hat er 25 Jahre lang das Wahlfach Fotografie unterrichtet.
"Das ist meine Leidenschaft", sagt der Mann nun. Die Autobahn - das immerwährende Fließen, der Weg in die Welt, die Bühne des Transits. Und die Filmkamera - für das Hier und Jetzt, für das Festhalten besonderer Ereignisse, für nostalgische Momente.
Für Max Trometer hat das immer zusammengehört. Für den kleinen Max und den großen Max.
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