Das Beben von Baden-Württemberg
Die Grünen vor der CDU – das gab es noch nie. Doch es ist nicht sicher, dass Kretschmann Ministerpräsident bleibt. Denn dafür benötigt er ausgerechnet die Christdemokraten.
Als das ganze Ausmaß des Bebens von Baden-Württemberg noch ein paar Stunden entfernt liegt, spricht eine Frau vor dem Stuttgarter Wahllokal im Seniorenzentrum Am Birkenwald einen bemerkenswerten Satz. „Es ist sympathisch, einen Grünen-Ministerpräsidenten in der dreckigsten Stadt Deutschlands zu haben“, sagt sie. Damit spielt sie auf die notorisch hohe Feinstaub-Belastung in der Landeshauptstadt an. Die ist so belastend, dass ausgerechnet am heutigen Montag, wenn Winfried Kretschmann als großer Wahlsieger präsentiert wird, schon zum vierten Mal in diesem Jahr Alarm ausgerufen wird. Autofahrer, so der Appell, sollen nach Möglichkeit auf Bus und Bahn umsteigen. Der Landesvater von der Öko-Partei regiert, wenn man so will, ausgerechnet von der Hauptstadt des Feinstaubs aus.
Ob das so bleibt, ist selbst nach diesem Abend nicht klar. Obwohl das Ergebnis des 67-Jährigen historisch ist – der beste Landeswert, den die Grünen in der Bundesrepublik jemals erzielt haben. Erstmals bilden sie in einem Land die stärkste Fraktion. Erstmals liegen im Südwesten nicht die Christdemokraten vorn. Und trotzdem ist die Fortsetzung der grün-roten Regierung nicht mehr möglich. Aber: Kretschmann kann Regierungschef bleiben. Dazu bedarf es einer weiteren historischen Entscheidung.
Auch viele CDU-Wähler wollten Kretschmann behalten
„Die Baden-Württemberger haben Geschichte geschrieben und die Grünen zur stärksten Kraft im Land gemacht“, sagt Kretschmann auf der Wahlparty seiner Partei in der Staatsgalerie. Rund 400 Gäste jubeln ihrem Superstar frenetisch zu. „Ich habe den Auftrag, erneut die Landesregierung zu bilden und erneut das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen“, sagt er. „Das ist ein furioses Ergebnis.“ Wenngleich stecke man in einer schwierigen Situation, sagt er später im ZDF. „Das vorherige Bündnis war Kür, das wollten wir. Jetzt kommen Bündnisse, die sind Pflicht.“
Dieser Wahlausgang ist die Folge einer jahrzehntelangen Entwicklung der Grünen. 1980 überspringen sie in Baden-Württemberg zum ersten Mal in einem Flächenland die Fünf-Prozent-Hürde, 2011 stellen sie den ersten grünen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik, 2016 sind sie im Südwesten bei einer Landtagswahl erstmals die stärkste Kraft – und überholen auch noch die CDU in deren Stammland. Kretschmann ist von der ersten Stunde an dabei. Bei den letzten Umfragen vor der Wahl haben sich rund zwei Drittel der Befragten dafür ausgesprochen, dass Kretschmann Regierungschef bleiben soll. Auch eine deutliche Mehrheit der CDU-Wähler wollte den Grünen-Politiker behalten.
Mit wem er jetzt weiterregieren kann, ist allerdings unklar. Kretschmann kündigt an, zunächst mit der CDU und dann mit SPD und FDP reden zu wollen. Weil die FDP wiederholt eine Allianz mit Grün-Rot ablehnt, bleibt aus Sicht von Kretschmann wohl nur eine Option: eine grün-schwarze Regierung. Bislang schwer vorstellbar – vor allem für viele in der CDU.
SPD-Landesvorsitzender Schmid denkt nicht an einen Rücktritt
Grün-Rot jedenfalls ist rechnerisch nicht mehr möglich. Laut vorläufigem amtlichen Endergebnis kommen die Sozialdemokraten gerade noch auf 12,7 Prozent und sind damit nach Grünen, CDU und AfD nur noch die viertstärkste Kraft in Baden-Württemberg. Damit liegt die Partei nochmals gut zehn Prozent unter ihrem Wahlergebnis von 2011. Schon vor fünf Jahren erzielten die Sozialdemokraten mit 23,1 Prozent ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis in der Geschichte des Landes. Eine Katastrophe für die Traditionspartei.
SPD-Innenminister Reinhold Gall spricht vom „schwierigsten Tag in seinem politischen Leben“. Auch sein Parteifreund, Kultusminister Andreas Stoch, ist bestürzt: „Wir brauchen jetzt eine schonungslose Analyse, woran das alles liegt.“ In der Partei gibt es bereits Stimmen, die den Posten von Nils Schmid als Landeschef infrage stellen. „Das muss Konsequenzen haben“, sagt ein SPD-Mitglied. Die Partei könne nicht so weitermachen.
Schmid, der seit 2009 Landesvorsitzender ist, will im Amt bleiben – obwohl er in seinem eigenen Wahlkreis Reutlingen mit 14,2 Prozent hinter Grünen, CDU und AfD lediglich auf Rang vier kommt. Auf die Frage, ob er an einen Rücktritt denke, antwortet er mit einem fast schon trotzigen „Nein“. Man zahle nun „einen hohen Preis für diese gemeinsame erfolgreiche Arbeit“, sagt Schmid resignierend. Im Wahlkampf sei es wegen der Flüchtlingskrise schwierig gewesen, Landesthemen zu setzen. Viele Bürger hätten offenbar „auf Kretschmann als Ministerpräsident gesetzt“.
Die Christdemokraten fahren bei den Wahlen ein Schlappe ein
Die Sozialdemokraten beklagten schon angesichts der schlechten Umfragewerte der vergangenen Wochen und Monate, dass ihre gute Regierungspolitik allein bei den Grünen und Kretschmann für eine steigende Zustimmung sorge. Geht es nach CDU und FDP, könnte die SPD auch in eine sogenannte Deutschland-Koalition unter einem Ministerpräsidenten Guido Wolf eintreten. Entsprechende Andeutungen macht dieser noch am Abend. Darauf will sich Schmid erst einmal nicht einlassen: „Die Grünen und Winfried Kretschmann haben das Mandat der Wähler zur Regierungsbildung bekommen.“
Und Wolf selbst? Der Mann, der seiner Partei das schlechteste Landesergebnis überhaupt beschert hat, hält sich nicht lange mit dem Desaster auf. Der arg gerupfte Spitzenkandidat reklamiert schon früh am Wahlabend den Vorsitz in der Landtagsfraktion. „Ein klares Mandat für die Gespräche mit den anderen Parteien über die Regierungsbildung ist wichtig“, begründet er sein Vorpreschen. An Rücktritt habe er nicht gedacht. Offensichtlich will der 54-Jährige eine Diskussion über seinen Teil von Verantwortung an der historischen Schlappe der Südwest-CDU erst gar nicht aufkommen lassen. Aus dem Hintergrund sind solche Stimmen gleichwohl zu hören. „Ich erwarte, dass er Verantwortung übernimmt und zurücktritt“, sagt ein ehemaliges Mitglied des Landesvorstands.
So abgebrüht wie Wolf nehmen die meisten Christdemokraten die Schlappe mit zweistelligen Verlusten nicht auf. Als die Hochrechnungen über die Bildschirme flackern, herrscht fassungsloses Entsetzen beim CDU-Anhang im Neuen Schloss. Einen kurzen Moment ist nur Schweigen, als die schlimme Prognose eintritt, die viele nach den Umfragen schon befürchtet haben. „Ein Bombenergebnis“, spottet einer, der Wolf nicht gewogen ist.
Die CDU fällt an diesem Tag im traditionell konservativen Baden-Württemberg weit in den 20-Prozent-Turm hinein. Nur zur Erinnerung: Zweieinhalb Jahre zuvor, als Kanzlerin Angela Merkel im Zenit ihres Ansehens stand und die Flüchtlingskrise noch weit weg war, fuhr die Südwest-CDU bei der Bundestagswahl 45,7 Prozent ein.
Hat Grün-Schwarz eine Chance in Baden-Württemberg?
„Es war vielleicht der schwierigste Wahlkampf für die CDU in der Geschichte des Landes“, erklärt Wolf den Erdrutsch. Gegen das Thema Flüchtlinge sei es fast unmöglich gewesen, landespolitische Themen in den Mittelpunkt zu bringen. Es gibt auch Christdemokraten, die beim Spitzenkandidaten massive Fehler sehen. Wolf sei unzugänglich für Beratung gewesen, lautet noch die mildeste Kritik. Gerade in der Flüchtlingspolitik schwankte sein Wahlkampf zwischen Merkel und der Kritik von CSU-Chef Horst Seehofer. Er selbst verweist auf die Verluste in Rheinland-Pfalz. Das soll wohl andeuten, dass es an ihm nicht gelegen hat. „Der Erfolg der AfD geht ausschließlich auf die Bundespolitik zurück“, geht zum Beispiel Ex-Minister Wolfgang Reinhart gegen Merkels Kurs in Stellung. Der CDU-Sicherheitsexperte Thomas Blenke formuliert es noch drastischer: „Die AfD kann ihre Dankesschreiben nach Berlin schicken.“
Einen Trost haben die Christdemokraten. Für Grün-Rot geht es nicht gemeinsam weiter. Nun ist die Frage, ob sich die CDU den Grünen und ihrem Star Winfried Kretschmann unterordnen sollen. Für Stefan Wolf, den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall, hat die CDU geradezu die Pflicht: „Es wäre kurzsichtig, die Chance auf Grün-Schwarz nicht zu ergreifen.“ Er findet, dass sich die Zusammenarbeit von CDU und Grünen aufdrängt: „Das wäre innovativ und würde dem Wählerwillen entsprechen.“ Dumm nur, dass sein Namensvetter erst Anfang vergangener Woche genau diese Konstellation ausgeschlossen hat. Gestern wiederholt er diese Absage nicht mehr: „Es wäre überheblich, mit der Partei, die der Sieger ist, nicht zu reden.“
Bei der FDP hat Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke die Mauer zu den Grünen hochgezogen. Mit ihm gebe es keine Koalition, in der die Grünen den Regierungschef stellen, erteilt er Spekulationen über eine Ampelkoalition eine Absage. „Bei mir gilt nach der Wahl, was ich vor der Wahl gesagt habe.“ Parteichef Michael Theurer formuliert das nicht so hart. „Man muss mit allen demokratischen Parteien gesprächsfähig sein“, betont der Europaabgeordnete. Klar sei aber, dass die FDP nur einsteige, wenn es einen Politikwechsel gibt: „Grün-Rot müsste eine 180-Grad-Wende machen.“
Winfried Kretschmann und seine grünen Mitstreiter vermitteln am Abend des Bebens von Baden-Württemberg aber nicht den Eindruck, dass sie ihren vom Wähler dermaßen honorierten Kurs ändern wollen. (mit dpa)
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