Zoff im Münchner Rathaus: Die SPD taumelt weiter in die Krise
Münchens Oberbürgermeister Reiter verliert im Stadtrat seinen wichtigsten Mann. Dass Alexander Reissl zur CSU wechselt, stürzt die Sozialdemokraten in die Krise.
Sieht man von einigen Lokalmatadoren in kleineren bayerischen Städten und Gemeinden ab, kann man in dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter so etwas wie den letzten Mohikaner der bayerischen Sozialdemokratie sehen. Augsburg ist der SPD schon vor längerer Zeit abhandengekommen. In Nürnberg müssen die Genossen zittern, weil ihr Zugpferd Ulrich Maly nach 18 Jahren im Amt nicht mehr als OB kandidiert.
In München regiert der fünfte Sozialdemokrat in Folge
Einzig in München scheint die stolze Tradition der SPD in den bayerischen Großstädten noch halbwegs gute Aussichten auf eine Fortsetzung zu haben. Nach Thomas Wimmer (1948–1960), Hans-Jochen Vogel (1960–1972), Georg Kronawitter (1972–1978 und 1984–1993) und Christian Ude (1993–2014) regiert dort mit Dieter Reiter der fünfte Sozialdemokrat in Folge. Dass er bei der Kommunalwahl am 15. März kommenden Jahres wiedergewählt wird, galt als relativ sicher – bis am Montag ein Vorgang die Münchner SPD erschütterte, der seinesgleichen sucht.
Alexander Reissl, seit 45 Jahren Mitglied der SPD und seit elf Jahren Vorsitzender der Stadtratsfraktion, kehrte den Genossen den Rücken und wechselte als parteiloses Mitglied direkt in die CSU-Fraktion. Er begründete seinen Schritt mit der zunehmenden Ideologisierung der SPD zum Beispiel in der Verkehrspolitik: „Sie wird nicht so stark strampeln können auf dem Fahrrad, um die Grünen zu überholen.“ Der Vorsitzende der Münchner CSU, der frühere bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle, triumphierte: „Wenn sich eine Persönlichkeit wie Alexander Reissl genötigt sieht, der SPD den Rücken zuzuwenden, dann bedeutet das nichts weniger als das Implodieren der Münchner SPD als Volkspartei.“ Die Münchner SPD-Spitze brachte in ihrer ersten Reaktion nicht mehr als ein paar reserviert-höfliche Floskeln zustande, die per Pressemitteilung verbreitet wurden – man sei überrascht, bedauere den Schritt und wünsche ihm persönlich alles Gute.
Ist Alexander Reissls Wechsel zur CSU eine Retourkutsche?
Auch in Hintergrundgesprächen versuchen die Sozialdemokraten die Angelegenheit tiefer zu hängen. Der Wechsel Reissls, so heißt es, sei halt eine Retourkutsche auf den Wechsel des bekannten CSU-Stadtrats Marian Offmann zur SPD vor zwei Monaten. Die Arbeit im Stadtrat sei davon nicht beeinträchtigt. Man sei in der SPD personell gut aufgestellt. Zwar werde der Fraktion Reissls Erfahrung und Sachkenntnis fehlen, nicht aber sein Eigensinn und sein Führungsstil. Und überhaupt: Der Abgang habe eine lange Vorgeschichte. Man habe sich entfremdet – inhaltlich und persönlich. So etwas komme halt vor.
Tatsächlich aber herrscht bei der Münchner SPD weitgehende Sprachlosigkeit und offenbar auch eine tiefe Verunsicherung. Wie kann es sein, dass dem OB sein wichtigster Mann im Stadtrat von der Fahne geht? Was bedeutet das für jenen Teil der traditionellen SPD-Wählerschaft, die sich durch den erklärt bürgerlichen Fraktionschef repräsentiert fühlte? Und welche Folgen hat das für die Kommunalwahl, wenn einer aus dem engsten Führungszirkel, der obendrein mit der Wahlkampfstrategie der Münchner SPD vertraut ist, zur Konkurrenz wechselt?
Verschärft wird die Brisanz dieser Fragen durch die politische Zwickmühle, in der die SPD ohnehin steckt. Schon bei der Kommunalwahl 2014 musste sie in München herbe Verluste hinnehmen, während Grüne und CSU zulegen konnten. Dieser Trend setzte sich bei den Bundestags-, Landtags- und Europawahlen fort. Eine rote Hochburg ist München schon längst nicht mehr. Bei der Landtagswahl 2018 wurden die Grünen in München mit 31,1 Prozent stärkste Partei, gefolgt von der CSU mit 24,8 Prozent. Die SPD lag mit 12,8 Prozent nur noch auf Platz drei. Laut Umfragen haben die Grünen seither noch einmal zugelegt. Eine Umfrage des Regionalinstituts für Marktforschung RIM sah sie zuletzt bei 42,8 Prozent. Und die CSU ist stabil geblieben.
Der letzte Trumpf der Münchner SPD
Der vermutlich letzte Trumpf der SPD in München ist die Popularität des amtierenden Oberbürgermeisters. Schon im Jahr 2014 hat Reiter es erst in der Stichwahl gegen den CSU-Kandidaten Josef Schmid geschafft. Im Frühjahr 2020 muss der 61-Jährige gegen zwei ambitionierte junge Frauen antreten: Kristina Frank (CSU) und Katrin Habenschaden (Grüne). Dass eine von beiden ihn erneut in die Stichwahl zwingen wird, darf aufgrund der aktuell vorliegenden Umfragewerte angenommen werden. Sollte es Habenschaden sein, könnte es, wenn der Höhenflug der Grünen anhält, vielleicht sogar eng für ihn werden.
Wahrscheinlich aber ist, dass Reiter aufgrund seiner Popularität die Stichwahl gewinnt. Wahrscheinlich ist nach aktuellem Stand aber auch, dass die SPD nie und nimmer die 30,8 Prozent der Stimmen holt, die sie 2014 noch bekommen hat. Dann würde Reiter nicht nur so etwas wie der letzte Mohikaner der Bayern-SPD sein. Im Stadtrat wäre er dann mit einer geschrumpften Fraktion im Rücken ein König ohne Land.
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