Zweite Stammstrecke steht auf der Kippe
Seit fast zwei Jahrzehnten wird über eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn in München diskutiert. Jetzt steht das Großprojekt auf der Kippe.
Wie wäre es eigentlich, wenn es von Augsburg, Memmingen oder Kempten aus eine direkte Zugverbindung zum Flughafen München gäbe? Schön wär’s! Und es ist nicht mal utopisch. Sollte die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München gebaut werden, wäre die wichtigste Voraussetzung dafür geschaffen.
Viele München-Pendler aus Schwaben und dem Südwesten Oberbayerns, die sich täglich in volle Züge quetschen und sich vom Münchner Hauptbahnhof aus mit S-Bahn, U-Bahn, Tram oder Bus Richtung Arbeitsplatz durchkämpfen müssen, wären wohl schon mit etwas weniger zufrieden. Die zweite S-Bahn-Stammstrecke könnte ihnen erhebliche Erleichterung verschaffen: weniger Verspätungen, weniger Gedränge beim Umsteigen in München, weniger Stress. Oder anders gesagt: mehr Zuverlässigkeit, mehr Tempo und mehr Komfort.
Seit Stuttgart 21 herrscht Misstrauen bei Großprojekten
Doch milliardenschwere Großprojekte sind seit dem Streit um Stuttgart 21 oder dem Debakel mit dem Flughafen Berlin in Misskredit geraten. Und so geht es auch in der Debatte um die zweite S-Bahn-Stammstrecke, deren Kernstück ein 7,3 Kilometer langer Ost-West-Tunnel unter der Münchner Innenstadt sein soll, vor allem ums Geld.
Als diese Woche bekannt wurde, dass die Staatsregierung die Kosten für das Projekt auf 2,1 Milliarden Euro deckeln will, läuteten die Kritiker gleich die Todesglocke. Markus Ganserer, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Landtag, forderte von Bayerns Verkehrsminister Joachim Herrmann (CSU), er müsse „jetzt die Reißleine ziehen“. Der Münchner Landtagsabgeordnete Michael Piazolo (Freie Wähler) nannte Herrmanns Kostendeckel ein „leeres Versprechen“.
Die Grünen gehen unter Berufung auf interne Berechnungen der Bahn von 2,4 beziehungsweise 2,57 Milliarden Euro Baukosten aus. Die Freien Wähler rechnen sogar mit drei Milliarden Euro. Die unausweichliche Folge wäre, so argumentieren die Kritiker, dass dieses Geld an anderer Stelle fehlt. Zahlreiche andere, dringend notwendige Nahverkehrsprojekte in ganz Bayern könnten nicht verwirklicht werden.
Mittel für Stammstrecke fehlen bei anderen Projekten
Abgeordnete aus unserer Region nennen Beispiele. Der Kaufbeurer Landtagsabgeordnete Bernhard Pohl (Freie Wähler) sagt: „Wichtiger als eine zweite Stammstrecke ist für die Pendler aus dem Allgäu und dem südwestlichen Oberbayern ein viertes Gleis zwischen Geltendorf und München.“ Ludwig Hartmann aus Landsberg, Fraktionschef der Grünen im Landtag, weist auf ein anderes Dauerärgernis für Pendler hin: „Erste Priorität hat für mich, dass man die Münchner U-Bahn nach Pasing verlängert. Da wäre den Pendlern mehr geholfen.“
Den kleinen Parteien steht im Landtag eine Große Koalition gegenüber. Für SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher ist die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München das „Rückgrat zur Ertüchtigung des gesamten Schienennetzes in der Metropolregion München“. Mit Metropolregion meint er nicht nur München und das engere Umland, sondern den Großraum zwischen Ingolstadt und Rosenheim, Augsburg und Landshut, ja sogar Regensburg und Passau rechnet er hinzu. Und er sagt: „Wenn die Herzarterie dicht ist, dann helfen nicht Kamillentee oder Zwieback. Da braucht es eine Weiterung der Schlagader.“
Auch der Verkehrsexperte der CSU im Landtag, der Allgäuer Abgeordnete Eberhard Rotter, sieht in der zweite Stammstrecke einen Segen für ganz Südbayern – vor allem dann, wenn die ursprüngliche Idee, die Strecke und die Bahnhöfe für Regionalzüge nutzbar zu machen, umgesetzt wird. „Es war immer unsere Forderung: Wir wollen den Tunnel, aber regionalzugtauglich. Das wäre der Quantensprung“, sagt Rotter. Zum Beispiel: In Memmingen einsteigen und dann in München aussteigen oder sitzen bleiben und bis zum Flughafen weiterfahren – „das wäre die Ideallösung.“
Herrmann bringt Verbindung Augsburg - Flughafen ins Gespräch
Dass diese Ursprungsidee im Zusammenhang mit der zweite Stammstrecke in der rund zwei Jahrzehnte alten Debatte in den Hintergrund getreten ist, hatte zwei Gründe. Zum einen galt das technische Problem der unterschiedlichen Bahnsteighöhen für S-Bahnzüge (96 Zentimeter) und normale Züge (76 Zentimeter) als kaum lösbar. Zum anderen blockierte der Traum der Staatsregierung vom Transrapid zwischen Hauptbahnhof und Flughafen die Planungen für ein umfassendes Expresszugsystem.
Der Traum vom Transrapid zerplatzte 2008 unter anderem deshalb, weil die Kosten von 1,6 Milliarden Euro (Machbarkeitsstudie im Jahr 2003) auf 3,4 Milliarden (Schätzung 2008) geradezu explodiert waren. Das Problem mit den unterschiedlichen Ausstiegshöhen gilt bei der Bahn mittlerweile als „lösbar“.
Innenminister Herrmann, der seit vergangenen Herbst auch Verkehrsminister ist, hat sich die ursprüngliche Idee nun zu eigen gemacht. Im Juli sagte Herrmann in München: „Ich habe mich in den letzten Wochen mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass es ein zweiter Tunnel sein wird, der kein reiner S-Bahn-Tunnel ist, sondern durch den auch schnelle Regionalexpress-Züge fahren können – nur um ein Beispiel zu nennen, ohne dass dieses jetzt schon konkretisiert ist, von Augsburg zum Flughafen München.“
Die Gegner fühlen sich bestätigt
Herrmann aber besteht auf einer Begrenzung der Kosten. Das Projekt, so sagt er, dürfe nicht zu Lasten des übrigen Bayern gehen. Der Spielraum im Haushalt liegt derzeit bei 2,1 Milliarden. Zuschüsse des Bundes und der Stadt München sind da schon eingerechnet. „Bei aller Notwendigkeit der zweiten Stammstrecke werden wir uns auf kein finanzielles Abenteuer einlassen“, sagte Herrmann, verwies aber gleichzeitig darauf, dass die endgültige Entscheidung erst nächstes Jahr, nach Abschluss der Planfeststellungsverfahren zu erwarten sei.
Der SPD im Landtag ist das zu vage, nachdem die Staatsregierung bereits 2012 verkündet hatte, dass die Finanzierung in trockenen Tüchern sei. Die Gegner der Stammstrecke dagegen fühlen sich bestätigt. Sie warnen vor unkalkulierbaren Kostensteigerungen. Experten der Bahn, bei Verkehrsbetrieben und den Industrie- und Handelskammern aber weisen allesamt auf ein Problem hin, das der CSU-Mann Rotter so zusammenfasst: „Es gibt keinen Plan B.“
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