Gipfel im Kanzleramt: Deutschland sucht wieder „Gastarbeiter“
Es fehlen gut ausgebildete Fachkräfte. Im Kanzleramt berät die Regierung mit Wirtschaft und Gewerkschaften. Die FDP spricht derweil von einem „Krisengipfel“.
Unmittelbar vor einem von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angeführten Spitzentreffen zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz äußert die FDP Kritik an der Regierung. Das geplante Gesetz sei völlig unzureichend, sagte ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher Johannes Vogel unserer Redaktion und ergänzte: „Die avisierte Zahl von 20.000 zusätzlichen Fachkräften ist lächerlich gering.“ Merkel hat die Minister Hubertus Heil (SPD) und Peter Altmaier (CDU), weitere Spitzenpolitiker sowie Vertreter der Wirtschaft und der Gewerkschaften für Montag ins Kanzleramt eingeladen. Sie wollen darüber diskutieren, wie das Fachkräfteeinwanderungsgesetz effektiv in der Praxis umgesetzt werden kann. Es soll am 1. März 2020 in Kraft treten.
„Das von der Bundesregierung beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist noch nicht einmal in Kraft getreten, da gibt es schon den ersten Krisengipfel im Kanzleramt“, höhnte Vogel. Er nannte es „Nicht-Genug-Fachkräfteeinwanderungsgesetz“. Die Union habe „viel zu lange gebraucht, um sich von ihrer Lebenslüge zu verabschieden, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei“, sagte der FDP-Arbeitsmarktexperte. „Für mehr hat es dann leider nicht gereicht, da hätte ich mir von der SPD gegenüber Horst Seehofer mehr erhofft.“
Pro Jahr werden 300.000 qualifizierte Kräfte gebraucht
„Trotz aller Bitten aus der Wirtschaft und trotz aller Warnungen von Experten, dass wir einfach viel mehr Fachkräfteeinwanderung brauchen, ist nur ein Reförmchen rausgesprungen“, sagte Vogel. In der Tat rechnen manche Experten, darunter der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, mit einem Bedarf von 300.000 qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland pro Jahr.
Kanzlerin Merkel warnte am Wochenende davor, dass deutsche Unternehmen ohne ausreichend qualifizierte Mitarbeiter schlimmstenfalls abwandern müssten. „Und das wollen wir natürlich nicht“, sagte die CDU-Politikerin. Schwarz-Rot will deshalb vorrangig das Potenzial hierzulande ausschöpfen. Zweitens schaut die Regierung auf Fachkräfte aus anderen EU-Staaten. „Und drittens stellt sich die Frage: Wie können wir Fachkräfte aus den Ländern außerhalb der Europäischen Union gewinnen“, sagte Merkel. Laut der seit gut einem Jahr öffentlichen Fachkräftestrategie der Bundesregierung sollen dafür Schwerpunkte in Drittstaaten wie Mexiko, Brasilien, Indien und Vietnam gesetzt werden.
Anders als bei den „Gastarbeitern“ soll es keine Anwerbeabkommen geben, wie sie 1955 erstmals mit Italien abgeschlossen wurden. Die Regierung will stattdessen ausländische Abschlüsse schneller anerkennen und die Palette der Berufe ausweiten. Bei der Vermittlung von deutschen Sprachkenntnissen ist eine stärkere Förderung im In- und Ausland geplant. Visa sollen schneller erteilt werden, hierbei ist das Auswärtige Amt von Minister Heiko Maas (SPD) gefragt. Der FDP-Politiker Vogel sagte dazu, oft bekämen beispielsweise ausländische IT-Fachkräfte in der Visa-Stelle nicht einmal einen Termin.
Gesucht werden IT-Experten, aber auch Handwerker, Köche und Pflegepersonal
Die Unternehmen hierzulande sind aufgefordert, ihren Teil beizutragen. „Die deutsche Wirtschaft muss eine Anwerbestrategie entwickeln und der Staat bürokratische Hürden beseitigen“, hatte Arbeitsminister Hubertus Heil am Wochenende unserer Redaktion in einem Interview gesagt.
Für die deutschen Unternehmen steht viel auf dem Spiel. „Das Fachkräfteproblem ist der Bremsklotz der deutschen Wirtschaft“, sagte der Präsident des Branchenverbandes Bitkom, Achim Berg. Hunderttausende Stellen könnten nicht besetzt werden, darunter allein 124.000 lukrative IT-Jobs in allen Branchen. Die Tendenz sei „rasant steigend“. Gesucht werden IT-Experten, aber auch Handwerker, Köche und Pflegepersonal.
Der FDP-Abgeordnete Vogel forderte von der Bundesregierung „einen großen Wurf, ein echtes Einwanderungsgesetz mit Punktesystem nach kanadischem oder neuseeländischem Vorbild“. Nur damit könne Deutschland im weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe mithalten.
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