Postengeschacher: Kann von der Leyen das EU-Parlament überzeugen?
Die Besetzung der Top-Positionen in der EU gleicht einem Pokerspiel. Ausgerechnet ein Vorschlag von Macron bringt die Verteidigungsministerin an die Spitze.
Vielleicht ist das der Tag, an dem Angela Merkel ihrer CDU endgültig zu viel zumutete. Verheißungsvoll fröhlich hatte die Bundeskanzlerin am Dienstag vor dem Beginn des zweiten EU-Gipfel-Teils noch angekündigt: „Wir gehen heute mit neuer Kreativität an die Arbeit“ – und gefordert, dass sich „jeder und jede bewegen“ müsse.
Manfred Weber wirft hin - ihm fehlte die Unterstützung Angela Merkels
Da wusste sie schon, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk Stunden später eine faustdicke Überraschung aus dem Hut zaubern würde: Keiner der drei Spitzenkandidaten bei der Europawahl, sondern Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) könne neue Kommissionspräsidentin werden, schlug er vor.
Die 28 Staats- und Regierungschefs stimmten wenig später zu. Die Sensation war perfekt. Merkel selbst wollte mit dem Vorschlag nicht in Verbindung gebracht werden, doch sie konnte genau das nicht verhindern. Die Idee sei vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez gekommen, bemühten sich Diplomaten in Brüssel, keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen.
Es fiel schwer, das zu glauben: Sollten wirklich ein Liberaler und ein Sozialdemokrat, die zuvor den Christdemokraten Manfred Weber verhindert hatten, nun eine deutsche Christdemokratin ins Spiel bringen, ohne dass die Regierungschefin davon etwas wusste?
„Fassungslosigkeit und Aufgewühltsein“ habe der Vorschlag in der christdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament ausgelöst, hieß es aus Straßburg. Nur kurz danach hatte Manfred Weber die Nase voll: „Hier hat meine Reise im letzten September als Spitzenkandidat begonnen, hier endet sie“, erklärte er am Abend vor seiner Fraktion in Straßburg. Er gebe seine Spitzenkandidatur auf. Merkels Kandidat warf hin – enttäuscht, brüskiert, ein letzter Akt der Selbstachtung. Und eine Konsequenz mangelnder Unterstützung durch die Kanzlerin.
In der Union haben nur wenige Verständnis für Merkels Europa-Kurs
Das begann schon am Montag. Niemand konnte fassen, dass Merkel ihre eigene Parteienfamilie aufforderte, mit Frans Timmermans einen Sozialdemokraten zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Und am Dienstag setzte sie auch noch auf ihre Pannen-Ministerin aus dem Verteidigungsministerium, die nie Spitzenkandidat der EVP war? Ein Vorstoß, der bei Vertretern der Europäischen Volkspartei (EVP) schon deshalb auf größte Skepsis stieß, weil ausgerechnet der von den Christdemokraten suspendierte ungarische Premier Viktor Orbán Beifall klatschte und ihn guthieß?
Merkels Pragmatismus, Stärke sei immer eine Frage der Perspektive, verpuffte. Dass ausgerechnet sie, die doch den christdemokratischen Spitzenkandidaten Manfred Weber mitgetragen hatte, diesen so emotionslos fallen ließ – das war zu viel. Mehr noch. Hatte nicht die Bundeskanzlerin höchstpersönlich in den vergangenen Tagen immer wieder betont, man müsse alles tun, um einen „Konflikt zwischen den Institutionen“ zu vermeiden?
Und genau der wird nun provoziert. Schließlich hatten die Parlamentarier mehrfach deutlich gemacht, dass sie am 16. Juli ausschließlich jemanden zum Kommissionspräsidenten wählen würden, der auch zuvor als Top-Kandidat in die Europawahl gegangen war. „Nicht akzeptabel“, kommentierte Udo Bullmann, bis vor kurzem Chef der sozialdemokratischen Fraktion, die Entscheidung des Brüsseler Gipfels, von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin zu machen. „Man kann sich nur an den Kopf fassen“, erklärte der frühere EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD).
Wenig zitierfähige Äußerungen gab es auch aus den Reihen führender Christdemokraten, doch niemand wollte sich offiziell äußern. Verständnis für Merkels Kurs – Fehlanzeige. Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses sieht vor, dass die Kandidatin in zwei Wochen eine Erklärung abgeben darf, dann braucht sie die Mehrheit der Stimmen. Wo die herkommen soll, ist nicht zu erkennen.
Am Abend hieß es selbst bei deutschen CDU-Europa-Politikern, sie fühlten sich „verschaukelt“. „Erst unterstützen wir Weber, dann beschließt das Parlament, dass nur ein Spitzenkandidat neuer Kommissionschef werden kann – und jetzt sollen wir einfach alles über den Haufen werfen? Wir sind doch kein Stimmvieh.“ Tatsächlich könnte die Nominierung von der Leyens zu einem riskanten Spiel werden. Denn sie hat nur eine Chance im Straßburger Plenum. Würde die Ministerin am 16. Juli abgelehnt, müssten die Staats- und Regierungschefs noch einmal von vorne anfangen und einen neuen Namen präsentieren.
EU-Sondergipfel: Das Parlament fühlt sich von Staats- und Regierungschefs übergangen
Und Merkel? „Ich habe mich bis zuletzt um eine faire Lösung für Manfred Weber und Frans Timmermans bemüht“, erklärte die Kanzlerin. Am Spitzenkandidaten-Modell wolle man dennoch festhalten und es weiterentwickeln, um ein „Konzept“ zu haben, wie man künftig solche „Konfrontationen“ vermeiden könne. Im Übrigen sei es „wenig hilfreich“, wenn der Spitzenkandidat der größten Fraktion im EU-Parlament von allen Seiten konsequent abgelehnt werde.
Tatsächlich kann die Einstimmigkeit der Staats- und Regierungschefs über den jetzigen Personalvorschlag kaum darüber hinwegtäuschen, dass der Gipfel tiefe Gräben gerissen hat. Das Verhalten der Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn hinterließ tiefe Verärgerung. „Frans Timmermans wurde abgelehnt, weil er Prinzipien und europäische Werte verteidigt hat“, schimpfte der spanische Premier. Dass der französische Präsident eine regelrechte Koalition gegen den deutschen Kandidaten Weber angezettelt habe, sitzt ebenfalls tief. Am Mittwoch geht das europäische Ringen weiter. Denn das Parlament soll seinen neuen Präsidenten wählen – mutmaßlich den bulgarischen Sozialdemokraten Sergei Stanischew. Antreten wird aber auch die Fraktionschefin der Grünen, Ska Keller.
Mit heftigen Kämpfen wird vor allem bei der Wahl der 14 Stellvertreter gerechnet. Dort will auch Katarina Barley zum Zuge kommen. Die frühere Bundesjustizministerin war als Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl angetreten. Doch auf den Gängen des Straßburger Parlamentes gab es am Abend nur ein Thema: Wie soll sich die europäische Volksvertretung angesichts des „Diktates der Staats- und Regierungschefs“ jetzt verhalten? EU-Ratspräsident Donald Tusk, der nun die Gespräche mit den Abgeordneten führen muss, ist um seine Aufgabe nicht zu beneiden. Das Parlament war am Dienstag auf Krawall gebürstet. Von der Leyen könnte das Opfer sein.
Sie braucht eine Mehrheit der 751 Parlamentarier aus 190 Parteien in 28 Mitgliedstaaten. Linke und Grüne winkten sofort ab. Christ- und Sozialdemokraten brauchen sich gegenseitig, um das Gesamttableau durchzubringen. Aber die beiden Blöcke reichen nicht für eine Mehrheit. Das Parlament fühlt sich von den Staats- und Regierungschefs übergangen. Das ergibt eine gefährliche Grundstimmung, die sich im Widerstand gegen die Personalvorschläge entladen könnte …
Von der Leyen nach Brüssel: Was das für Berlin bedeuten könnte
Auch in der CSU nahm man die Nachricht mit Ärger auf. Ausgerechnet die in der Partei eher unbeliebte von der Leyen verdrängt den eigenen Mann. Markus Söder kritisierte prompt: „Manfred Weber wäre der legitime Kommissionspräsident gewesen, das wäre auch der demokratischste Weg gewesen. Es ist bitter, dass die Demokratie verloren und das Hinterzimmer gewonnen hat.“
Gleichwohl trägt die CSU die Nominierung von der Leyens mit. „Natürlich ist es für Deutschland gut, dass wir erstmals seit Jahrzehnten wieder den Kommissionspräsidenten stellen können“, sagte der CSU-Vorsitzende, und: „Aus Verantwortung für das Land und Europa akzeptieren wir die Entscheidungen. Aber jubeln können wir heute nicht. Das ist ein Punkt für Deutschland, aber eine Niederlage für Europa.“ Kritik übte Söder am Agieren des französischen Präsidenten mit seinem ungarischen Kollegen gegen Weber: „Die unselige Koalition von Macron und Orbán wird in den Kleidern hängen bleiben.“
In Berlin begannen unterdessen bereits die Spekulationen. Kaum etwas bringt die Gerüchteküche so zum Glühen wie ein frei werdender Ministerposten. Wechselt die Verteidigungsministerin nach Brüssel, braucht Kanzlerin Angela Merkel schnell Ersatz. Doch kommt es dann zum minimalinvasiven Eingriff am Kabinettskörper oder ordnet Merkel die Volloperation an?
Wird das Verteidigungsministerium nun ein Sprungbrett für Annegret Kramp-Karrenbauer?
Insider von Union und SPD halten derzeit beides für möglich. Scheinbar einfachste Variante wäre: Die Kanzlerin sucht nach dem überlieferten Proporzprinzip einen Nachfolger für von der Leyen und lässt das übrige Kabinett, wie es ist. Ein Name, der in diesem Zusammenhang fällt: Bernd Althusmann, Vize-Regierungschef von Niedersachsen, Hauptmann der Reserve der Bundeswehr, der an der Bundeswehruniversität Hamburg Personalwesen studiert hat. Würde er berufen, bliebe das Ministerium in niedersächsischer Hand und bei der CDU.
Gegen vermeintlich naheliegende Optionen wie diese sprechen allerdings taktische Überlegungen der Union. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer steckt im Umfragetief. Viele Christsoziale glauben, dass „AKK“ sich in einem Ministeramt weit besser in Stellung für die Merkel-Nachfolge bringen könnte als durch den Parteivorsitz allein. Schon lange wartet Merkel dem Vernehmen nach auf die passende Gelegenheit, Kramp-Karrenbauer an hervorgehobener Stelle ins Kabinett einzufädeln.
Als fraglich gilt aber, ob ausgerechnet das politisch heikle Verteidigungsministerium das richtige Sprungbrett für AKK wäre. Die zudem aus der gleichen Ecke Deutschlands wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier kommt. Zwei CDU-Minister aus dem kleinen Saarland? Kaum denkbar. Nicht ausgeschlossen also, dass Merkel ihren Vertrauten Altmaier opfert. Und eine größere Kabinettsumbildung angeht. Die nicht auf die CDU beschränkt bleiben müsste, sondern zu einem ganz neuen Feilschen der Regierungsparteien um die Ressorts führen könnte.
Die Diskussion ist geschlossen.
Merkel war gefordert. War sie auch: überfordert?
Jedenfalls hat sie in Macron einen "Partner", der knallhart Interessen Frankreichs verfolgt. Und bei dem der Zweck fast schon jedes Mittel zu heiligen scheint - siehe Weber und Weidmann.
Sollte das Personaltableau der europäischen Staats- und Regierungschefs die Zustimmung des Europaparlaments finden, könnten die Umverteilungshoffnungen von Frankreich und vielen anderen Ländern spürbar Fahrt aufnehmen.
Denn Lagarde wäre als politisches Schwergewicht mit französischer Prägung dann in einer entscheidenden Position.
Würden Merkel und von der Leyen unter diesen Bedingungen unsere Stabilitätskultur gegen die Verfechter einer Transferunion und umverteilenden Geldpolitik entschlossen verteidigen?